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Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Titus Müller
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zischte: »Er versucht, euch einzuschüchtern, nichts weiter.«
    »Aber er ist der Priester?«
    »Er ist nichts weiter als ein alter Mann.« Nevopor erhob sich. »Ich werde ihn kein Wort zum Volk reden lassen, er wird sterben wie die Opfertiere.«
    »Wie gut könnte ich Mstislav gebrauchen, Nakon, Witzan und die anderen! Ich habe den Alten beobachtet am Pfahl vor dem Westtor. Es gefällt mir nicht, wie aufmerksam er die Leute betrachtet.«
    »Das wird ihm nichts nützen.«
    Barchan stand auf. Er nickte, nachdenklich und langsam.
    Nevopor hielt ihm die Tür auf. »Eile dich. Ich möchte, daß ihr hinter dem Tempel seid, bevor die Sonne aufgeht.« Als der Tempelgardist sich an ihm vorbeischob, hielt er ihn am Arm fest. »Eines noch: Sollte es heute Unstimmigkeiten zwischen den anderen Priestern und mir geben, darf das dich und deine Männer nicht zu einem Zögern verleiten. Es gilt mein Wort. Möglicherweise ist rasches Handeln notwendig.«
    Barchan löste sich aus Nevopors Griff und verschwand in Richtung der Gardistenhäuser.
    Vor dem Haus richtete Nevopor das Gesicht zum Himmel. Jeden Morgen starb die Welt. Das Schwarz der Nacht war Leben, ein dunkles zwar, das Reich Cernobohs, aber gefüllt mit Käuzchenrufen, dem Unken der Kröten, leisen Fledermausflügelschlägen und dem Trippeln der Igel. Der Tod kam, wenn die Schwärze ging und die Sterne verblaßten. Im fahlen Grau ging der ermattete Himmel zugrunde. Es währte einige Augenblicke, eine tote Zeit, ein Untergang,bis sich der erste rote Schimmer zeigte und neues Leben versprach, bis die Drosselrohrsänger erwachten, die Fliegen, die Bussarde.
    Heute schien der bleiche Moment länger anzudauern. Die Geräusche aus der Vorburg schwollen an, als griffe eine Unruhe nach den Menschen. Still war es nie, wenn Hunderte, Tausende in der Vorburg lagerten; immer bellte irgendwo ein Hund, Schafe blökten, Kinder schrien. In einigen Zelten zankten Männer mit ihren Frauen, in anderen sang man leise, oder es fiel etwas zu Boden und zerbrach, und Flüche folgten oder das Knallen einer Ohrfeige. Nevopor lauschte.
    Dieses war anders. Dieses war ein Murmeln von vielen Stimmen, ein Sichverschwören, ein sich Absprechen hinter seinem Rücken. Etwas ging im Lager vor, er spürte es, fühlte boshafte Blicke, die sich durch die Zeltschlitze auf den Tempel richteten, ehrfurchtslos, zerstörerisch. Es waren nicht alle, sicherlich, aber das Pestgeschwür war da, die wuchernde Krankheit der Rebellion, sie war in diesem Augenblick geboren; mit der Bleiche, mit den Momenten des Todes war sie aufgebrochen wie eine Eiterbeule.
    Schuhe knirschten. »Verzeihung, Herr, ich wußte nicht, daß du dich mit Barchan allein besprechen wolltest.«
    Nevopor drehte sich herum und fuhr Chotebąd an: »Was konnte dich annehmen lassen, daß du bei der Beratung nützlich wärst?«
    Der junge Mann schlug die Augen nieder. »Nichts, Herr.«
    »Verfolge heute deine Aufgaben mit besonderem Ernst. Vielleicht kann ich das Vorkommnis vergessen.«
    »Danke, Herr. Möchtest du, daß ich ein Frühstück richte?«
    »Nein. Geh in den Wald, aber hinten heraus, durch das Seetor. Sorge dafür, daß dich niemand beobachtet. Schneide zwei kräftige Stecken und spitze sie ein wenig an. Lege sie vor dem Tempel ab.«
    »Stecken schneiden? Aber es ist heiliger Wald, ich darf kein frisches Holz schlagen, darf die Bäume nicht beschädigen. Wenn mich jemand entdeckt, wird er mich töten!«
    »Was verstehst du von heilig oder nicht heilig? Der Bote des Sonnenherrn selbst befiehlt dir, und du wagst es, tölpelhafte Gründe anzuführen? Was weißt du, wofür die Stecken gebraucht werden – Chotebąd, ich erinnere dich daran, wie Donik starb. Fängst du an, ungehorsam zu werden?«
    »Nein, Herr, verzeih mir. Ich hatte nur Sorge, dich falsch verstanden zu haben.«
    »Verschwinde.«

34. Kapitel
     
     
    Die Steintafel war zu einer Quelle geworden, aus der Blut sprudelte. Sie ragte an den Seiten weit über das Fundament hinaus; von der Kante floß der Lebenssaft in Rinnsalen auf die Erde herab, die jedesmal anschwollen, wenn einem Tier auf dem Altar die Kehle durchtrennt wurde, und mit der Zeit wieder abnahmen bis hin zu lautlosem Tröpfeln. Sie verebbten nie völlig.
    Schafe blökten vor Furcht, wenn die Priester sie auf den nassen Stein preßten, daß sich das Blut der anderen Opfer in ihr wolkenweißes Fell sog; Ziegen verdrehten die Augen, geköpfte Vögel spritzten den Priestern mit wilden Flügelschlägen Blutstropfen ins

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