Die Principessa
Cousine gesprochen hatte, in der Familienkapelle, am Morgen vor seiner Abreise nach Spanien … Die beiden hatten damals so zärtlich miteinander gesprochen wie zwei Liebende.
Plötzlich fiel Clarissa die Vase ein, die sie bei ihrer Flucht umgestoßen hatte, und Angst schnürte ihr die Kehle zu. Wenn es stimmte, was sie gehört hatte, wenn das, was dieser unheilige Mönch sagte, tatsächlich die Wahrheit war und Olimpia bemerkt hatte, dass sie belauscht worden waren – was dann? Ohne zu überlegen, was sie tat, ging Clarissa zur Tür und schob den Riegel vor. Denn in ihr Entsetzen über den schrecklichen Verdacht, der mit solcher Macht Besitz von ihr ergriffen hatte, mischte sich eine zweite, noch schlimmere Angst. Die Angst um ihr eigenes Leben.
Clarissa wusste nicht, wie viele Stunden sie sich mit all den quälenden Fragen beschäftigt hatte, doch irgendwann am späten Abend – die Kerze im Leuchter war bereits bis auf einen kurzen Stumpf heruntergebrannt – hielt sie es nicht länger aus. Sie musste sich Gewissheit verschaffen. Wenigstens in dieser einen Frage.
Sie nahm den Leuchter vom Tisch und leise, damit niemand sie hörte, schob sie den Türriegel zurück und trat auf den dunklen Flur hinaus.
Während sie sich durch das schlafende Haus tastete, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Auf der Treppe knarrte eine Stufe. Clarissa blieb stehen und horchte in die Finsternis hinein. Doch nichts schien sich zu regen. Nur von irgendwoher drang das Ticken einer Uhr zu ihr.
Endlich gelangte sie an ihr Ziel. Als sie die Tür zu dem kleinen Kabinett öffnete, in dem sie das Gespräch ihrer Cousine belauscht hatte, hob sie den Leuchter, um besser zu sehen. Sie hoffte, die Scherben der zersprungenen Vase vorzufinden, doch auf dem Marmorboden waren keinerlei Spuren von ihrem Missgeschick zu sehen, und die Verbindungstür zum Nachbarzimmer, durch deren Spalt Clarissa gespäht hatte, war festverschlossen. Jemand musste sie nach ihrer Flucht wieder zugezogen haben.
»Was machst du hier?«
Erschrocken drehte Clarissa sich um. Vor ihr stand Olimpia, auch sie mit einem Leuchter in der Hand. Von Nervosität war in ihrem Gesicht nichts mehr zu erkennen, sie schien so ruhig und gefasst wie je – höchstens, dass sie die Stirn runzelte.
»Ich dachte, du bist krank. Man sagte mir, du fühltest dich nicht wohl und wolltest zu Bett. Was hast du?«
»Ich … ich weiß nicht, ich glaube, ich habe mir den Magen verdorben.«
»Bei dem Wenigen, was du isst? Nein, mich kannst du nicht täuschen.« Olimpia schüttelte den Kopf und kam auf sie zu.
»Warum lügst du mich an? Ist das nötig zwischen uns beiden? Ich weiß doch, was es ist.« Plötzlich stellte sie den Leuchter ab, nahm Clarissa in den Arm und küsste sie auf die Stirn. »Es sind die Nachrichten aus England, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«, fragte Clarissa, die Olimpias Arm wie eine Schlinge um ihren Körper empfand, während ihre Cousine sie mitfühlend, ja liebevoll ansah.
»Da«, sagte Olimpia und zog einen Brief aus dem Ärmel ihres Kleides. »Verzeih, dass ich ihn gelesen habe, ich wusste ja nicht, dass er für dich bestimmt war. Er lag auf dem Boden, neben der Tür. Hast du nicht gemerkt, dass du ihn verloren hast?«
Olimpia musterte sie mit einem langen, eindringlichen Blick. Was hatte dieser Blick zu bedeuten? Clarissa hielt ihm nicht länger stand und schlug die Augen nieder.
»Bitte entschuldige mich«, sagte sie mit letzter Kraft und machte sich von ihrer Cousine los. »Aber ich glaube, ich möchte jetzt in mein Zimmer gehen.«
15
Am 13. Mai, dem Himmelfahrtstag des Jahres 1649, verlas Papst Innozenz X., nachdem er im Beisein von Kardinälen, Fürsten und Botschaftern das feierliche Hochamt zelebriert hatte, vor der zugemauerten Pforte von Sankt Peter die Bulle, mit der er das Heilige Jahr 1650 ankündigte. Doch nicht jeder in der großen Stadt hatte Grund zur Freude. Denn während sich die Christenheit auf das Jubelfest vorbereitete und tausende von Gläubigen aus aller Welt sich auf den Weg nach Rom machten, um durch die Teilnahme an den Feiern Vergebung für ihre Sünden zu erlangen, durchlitt Clarissa ein Fegefeuer der Ungewissheit. Hatte ihre Cousine wirklich getan, was der Mönch behauptete? Und wenn: Ahnte sie, dass Clarissa ihr Geheimnis kannte?
Den Sommer über wich Olimpia kaum von ihrer Seite. Sie kümmerte sich mit solchem Eifer um sie, dass Innozenz manches Mal murrte, sie würde ihn vernachlässigen. Dabei begegnete sie Clarissa
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