Die Principessa
wieder den Brief zur Hand, um ihn ein zweites Mal zu lesen, doch es gelang ihr nicht, sich auf die Zeilen ihres Vaters zu konzentrieren. Wie hatte doch der Mann, der gerade in dem angrenzenden Raum saß, nur durch eine angelehnte Tür von ihr getrennt, ihr Leben durcheinander gebracht! Bei dem Gedanken an seine Umarmung spürte sie, sosehr sie sich auch dagegen sträubte, immer noch dieses süße und gleichzeitig so schmerzliche Verlangen, das damals seine Erfüllung gefunden hatte. Doch um welchen Preis! Sie hatte die Erinnerung an jenen unwirklichen, überwirklichen Augenblick in ihrem Herzen eingeschlossen wie den Duft eines Parfüms in einem Flakon und diesen sorgsam versiegelt, aber nie hatte sie gewagt, das Fläschchen zu öffnen, aus Angst, dass statt des kostbaren Duftes ein unheilvoller Odem daraus entweichen könne, verdorben von der Zeit und den Umständen zu einem gefährlichen, todbringenden Gift.
Die Stimmen nebenan wurden lauter. Unwillkürlich schauteClarissa zur Tür. Sie konnte nicht anders, es geschah ganz von allein. Ob er Olimpia dieselben Worte sagte, die er damals zu ihr gesagt, dieselben Dinge mit ihr tat, die er mit ihr getan hatte? Sie verbot sich daran zu denken – das ging sie nichts an! Aber warum wollte Olimpia ein Bildnis von ihm? Alessandro Algardi hatte doch schon eins von ihrer Cousine in Marmor gemeißelt, außerdem gab es gemalte Porträts von ihr zuhauf, eins schöner und prächtiger als das andere. Und warum brauchte Lorenzo so lange für die Büste? War die Arbeit nur ein Vorwand, um möglichst oft mit Donna Olimpia zusammen zu sein? Eine längst vergessene Erinnerung stieg in Clarissa auf, eine Szene im Morgengrauen, vor vielen, vielen Jahren, in der Kapelle des Palazzo Pamphili: zwei verhüllte Gestalten, die einander umschlungen hielten und leise Worte flüsterten.
Die Stimmen nebenan waren jetzt so laut und ihr Ton so erregt, dass Clarissa in dem Zischeln und Tuscheln einzelne Wortfetzen verstand.
»Es muss ein Geheimnis bleiben – unbedingt!«
»Natürlich! Sie können sich auf mich verlassen, Eccellenza … Ein hübsches kleines Geheimnis, von dem nur Sie und ich wissen … Unter einer Bedingung … Aber die kennen Sie ja …«
Clarissa erhob sich, um die Tür zu schließen. Es war ihr zuwider, Zeugin dieser Vertraulichkeiten zu werden.
Plötzlich stutzte sie. Durch den Türspalt erkannte sie, dass Donna Olimpias Besucher gar nicht Lorenzo Bernini war, sondern ein Mönch. Sie wollte die Tür gerade zuziehen, da drehte der Mann sich um, und Clarissa sah sein Gesicht: zwei kleine stechende Augen und darunter ein wulstiges Lippenpaar – derselbe Barfüßermönch, der in der Osternacht schon einmal bei Olimpia gewesen war. Ohne die Tür zu schließen, trat Clarissa einen Schritt zurück. Was ging da vor?
»Das ist das letzte Mal«, zischte Donna Olimpia, »das
allerletzte
Mal.«
»Stören Sie mich jetzt nicht«, erwiderte der Mönch. »Sonst muss ich wieder von vorn anfangen.«
Vorsichtig spähte Clarissa durch den Türspalt. Was hatte es mit dem Mann auf sich? Ihre Cousine war ganz blass, und aus ihrem Gesicht sprach eine solche Unsicherheit, ja Angst, wie Clarissa sie noch nie an ihr erlebt hatte. Ruhelos ging Olimpia in dem Zimmer auf und ab, während der Mönch sich über den Tisch beugte, um Münzen zu zählen, die er eine nach der anderen in ein Ledersäckchen steckte.
»Fünftausendachthundert, fünftausendneunhundert, sechstausend.« Er ließ die letzte Münze in das Säckchen fallen und drehte sich zu Donna Olimpia herum. »Mehr nicht? Für einen so prächtigen Edelstein?«
»Ich warne Sie, strapazieren Sie meine Geduld nicht über das Maß hinaus!«
»Sie – mich warnen?« Der Mönch lächelte Donna Olimpia mitleidig an. »Wenn ich mich mit sechstausend Scudi begnüge, so beweist das nur, was für ein großes Herz ich habe. Ein Akt der Mildtätigkeit. Aber wenn Sie meinen, mich warnen zu müssen, kann ich es mir durchaus noch einmal anders überlegen.« Das Lächeln verschwand von seinen fleischigen Lippen, und seine Blicke richteten sich wie ein Speer auf Donna Olimpia, während er sich ungeniert im Schritt kratzte, als plagten ihn Flöhe. »Vergessen Sie nicht, ich habe Sie in der Hand!«
»Vergessen
Sie
nicht, dass ich Sie jederzeit einsperren lassen kann!«
»Das können Sie nicht«, sagte der Mönch seelenruhig, fast gelangweilt, und schnürte den Geldsack zu. »Ich habe bei Kardinal Barberini einen versiegelten Brief hinterlegt, den Seine
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