Die Principessa
rühren. Obwohl er dieser Frau noch nie begegnet war, schien ihm, als habe er ihr Gesicht schon einmal gesehen, in einer verschneiten Winternacht vor vielen Jahren. War sie es wirklich? Im Traum war ihm damals jenes Gesicht erschienen, in eben dem Moment, da er seiner Männlichkeit erstmals gewahr geworden war und sein Lebenssaft in einer Mischung aus Wollust und Entsetzen aus ihm heraustrieb. Seit jenem Augenblickverwirrend süßer Seligkeit hatte er auf diese Frau gewartet, keusch wie ein Priester. Und mit einer Sicherheit, die keinen Zweifel kannte, wusste er plötzlich: Dies war die Frau seines Leben – die Frau, die das Schicksal für ihn ausersehen hatte. Im selben Augenblick begannen seine Hände zu zittern.
9
Endlich hatte Clarissa ihn entdeckt! So sah er also aus, der große und berühmte Mann. Erstaunt stellte sie fest, wie unglaublich jung er war – vielleicht vierundzwanzig, höchstens fünfundzwanzig Jahre. Sie hatte ihn sich viel, viel älter vorgestellt! Sie klopfte sich den Staub vom Kleid und tastete sich das Gerüst entlang.
»Was … was um Himmels willen machen Sie hier oben?«, fragte er sie mit einer warmen und gleichzeitig sehr männlichen Stimme, während er sich von den Knien erhob.
»Die Arbeiter haben mir gesagt, dass ich Sie hier finde«, erwiderte sie.
»Sie – mich finden?«, stotterte er. »Ich … ich verstehe nicht … Haben Sie mich denn gesucht?«
»Aber ja doch, seit ich in Rom bin, möchte ich Sie kennen lernen!«, sagte sie und ging auf ihn zu. »Nur hatte ich bis jetzt noch keine Gelegenheit …«
»Passen Sie auf!«, rief er und fasste sie am Arm. »Sonst fallen Sie noch runter!«
»Wie dumm von mir!« Als sie an dem Gerüst hinabschaute, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ich hatte gar nicht gedacht, dass es so hoch ist. Danke!«, flüsterte sie. »Ich glaube, Sie haben mir gerade das Leben gerettet.«
»Unsinn!«, sagte er schroff. »Aber Sie hätten sich leicht ein paar Knochen brechen können.«
Für einen Augenblick standen sie ganz nah beieinander. SeineHand schloss sich fest um ihr Handgelenk, während er sie mit seinen braunen Augen so streng anschaute, dass sich eine scharfe senkrechte Falte zwischen seinen Brauen bildete. Als sie seinen Blick erwiderte, ließ er ihr Gelenk los, und ein verlegener, fast scheuer Ausdruck trat in sein Gesicht.
»Die Bretter liegen nur lose auf«, sagte er. »Da kann es leicht passieren, dass sie verrutschen und dann …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende. Mit plötzlich hochrotem Kopf, als hätte er ihn in Farbe getaucht, wandte er sich ab, nahm Schlägel und Meißel zur Hand und kniete vor einer halb fertigen Figur nieder, um an ihr zu arbeiten. Offenbar betrachtete er das Gespräch als beendet. Clarissa war verwirrt. Jetzt hatte sie endlich diesen Mann gefunden, war sogar in ihrem langen Kleid auf das Gerüst geklettert, nur um mit ihm zu sprechen, und er drehte ihr den Rücken zu! Was sollte sie tun?
Unten am Eingang der Kirche schauten die Arbeiter, die Clarissa den Weg gewiesen hatten, neugierig zu ihr herauf.
»Was für eine eigenartige Figur«, sagte sie schließlich.
»Sie gefällt Ihnen wohl nicht?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
»Das wollte ich nicht sagen. Nur …«, Clarissa suchte nach dem italienischen Wort, »… sie ist so eigenwillig, so völlig anders als alles, was ich bisher gesehen habe. Was soll sie darstellen?«
»Sehen Sie das nicht? Einen Cherub.«
Während er mit so finsterem Gesicht auf den Meißel einhämmerte, als hätte sie etwas verbrochen, trat Clarissa näher. Ja, vielleicht sollte das ein Cherub werden, was er da schuf – aber von Jauchzen und Frohlocken keine Spur. Das Gesicht war eher hässlich als anmutig, der Mund verzogen und die Haare ringelten sich wie Schlangen um den Kopf.
»Wenn es ein Engel ist«, sagte sie, »warum lächelt er dann nicht?
Er sieht eher aus, als würde er vor Schmerz schreien.«
Er unterbrach seine Arbeit und drehte sich zu ihr um. »Das haben Sie erkannt?«, fragte er, ungläubig und zugleich mit einem Anflug von Stolz.
»Das ist ja nicht zu übersehen! Irgendetwas scheint ihn fürchterlich zu quälen. Sagen Sie mir, was es ist?«
»Ach, das wird Sie nur langweilen.«
»Bestimmt nicht! Bitte, sagen Sie’s mir. Weshalb zieht er so ein Gesicht?«
»Weil …«, er zögerte eine Sekunde und schlug die Augen nieder, »… weil er sein Schicksal nicht ertragen kann. Sein Schicksal ist die Qual, unter der er leidet. Darum kann er nicht
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