Die Principessa
Abreise errichtet worden waren.
»Sonst wollen die Leute immer die alten Sachen sehen«, wunderte er sich. »Die Pilgerkirchen, die Märtyrergräber oder die Katakomben, in denen die ersten Christen sich versteckt haben. Sollen wir nicht lieber dorthin fahren?«
Konnte Giulio Gedanken lesen? Woher wusste er, wohin sie eigentlich hätte fahren sollen? Ärgerlich wies Clarissa den Gedanken von sich.
»Nein«, rief sie fast trotzig, »ich will die neuen Bauwerke sehen.«
Wie sehr hatte Rom sich verändert! Es war, als wäre inmitten der alten Stadt, die Clarissa von früher her kannte, eine neue aus dem Boden gewachsen, wie verschiedene Generationen von Pflanzen, die in einem Park einander überwucherten. Waren all diese Bauten wirklich in so kurzer Zeit entstanden? Oder hatte sie bei ihrem ersten Aufenthalt nur deshalb so wenig davon gesehen, weil William sie nie auf die Straße lassen wollte? Ihr alter Tutor hätte sicher alles versucht, um sie an dieser Irrfahrt zu hindern, doch er war zu gebrechlich geworden, um sie ein zweites Mal nach Rom zu begleiten, und deshalb in England geblieben, wo er sich nun im Ruhm seines literarischen Werkes sonnte, der
»Reisen in Italien, unter besonderer Berücksichtigung der mannigfaltigen Verführungen und Verlockungen, welche in diesem Lande zu gewärtigen sind«.
»Sollen wir nicht eine Pause machen, Principessa? Wir sind schon sechs Stunden unterwegs.«
»Ich bin nicht müde, Giulio. Und wir haben längst nicht alles gesehen.«
Giulio kannte die Stadt wie die Taschen seiner abgerissenen Hose. Mit Gesten, als habe er die Bauwerke selber errichtet, zeigte er Clarissa die prächtigsten Paläste, die herrlichsten Kirchen, die wunderbarsten Denkmäler – doch nichts weckte ihr Interesse. Mit halbem Ohr hörte sie seinen wortreichen Erklärungen zu und verweilte bei jeder Station nur wenige Minuten, bevor sie zur Weiterfahrt drängte. Sie konnte einfach nicht finden, wonach sie suchte. Doch wonach suchte sie? Wusste sie es selbst?
Plötzlich hatte sie eine Idee. »Bring mich zu den großen Baustellen!«
»Baustellen?« Giulio blickte sie an, als habe er nicht richtig verstanden. »Was wollen Sie denn dort? Da gibt es doch nur Staub und Dreck! Ich bringe Sie lieber zu meiner Schwägerin Maria. Die hat eine Taverne ganz in der Nähe und kocht die beste
pasta
in der Stadt.«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Du sollst mir die Baustellen zeigen!«
Während die Pferde anzogen, stieß Clarissa einen Seufzer aus. Ach, wäre die Entschlossenheit in ihrem Herzen nur halb so groß wie die Entschlossenheit in ihrer Stimme! Stattdessen wurde sie von Zweifeln geplagt. Durfte sie tun, was sie tat? Sie hatte sich bei ihrer Rückkehr geschworen, keinen der beiden Männer, die sie in dieser Stadt zurückgelassen hatte, je wieder zu sehen. Sie war auf Wallfahrt, sollte beten für ihren Mann, Lord McKinney, beten in den Pilgerkirchen, an den Gräbern der Märtyrer und Apostel, an allen Gnadenorten Roms: Das war ihr Auftrag, der einzige Zweck ihres Aufenthalts in dieser Stadt. Doch der Verdacht,der ihr am Vortag beim Anblick des Glockenturms von Sankt Peter gekommen war, ließ ihr keine Ruhe. Wenn wirklich stimmte, was sie befürchtete – durfte sie da tatenlos schweigen? Während die Kutsche von Baustelle zu Baustelle fuhr, prüfte Clarissa angespannt die entstehenden Gebäude: Würde sie Castelli an seinen Werken erkennen? Überall wurde jetzt in der neuen Manier gebaut, die sie vor Jahren hier erstmals gesehen hatte, Gebäude mit so üppig schwellenden Formen, als gebe es weder Armut noch Not, aber nirgendwo erkannte sie seinen besonderen Stil wieder, seine unverwechselbare Eigenart, die ihn vor allen anderen Architekten auszeichnete. Konnte es sein, dass er gar nicht mehr in Rom lebte? Oder, schlimmer noch, dass niemand ihm einen Auftrag gab?
Plötzlich – die Mauern und Türme warfen schon lange Schatten – begann ihr Herz vor Aufregung zu klopfen.
»Anhalten!«, rief sie und sprang aus der Equipage.
Obwohl die Fassade der Kirche noch eingerüstet war, konnte Clarissa ihre seltsame Form deutlich erkennen. Sie war in Anlehnung an einen menschlichen Körper gestaltet, der die Besucher des Gotteshauses mit offenen Armen zu empfangen schien. Das musste sein Werk sein! Niemand sonst würde auf einen solchen Einfall kommen! Eilig überquerte sie die Piazza und sprach einen jungen Zimmermann an.
»Wie heißt der Architekt, der diese Baustelle leitet? Heißt er vielleicht
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