Die Principessa
passierte, sah Clarissa in der Ferne die Engelsburg. Allmählich gelang es ihr, klarer zu denken, und sie fing an, sich Vorwürfe zu machen. Wie hatte sie so leichtsinnig sein können, diesen Mann aufzusuchen? Allein und noch dazu am Abend! Sie kannte ihn doch, wusste, wozu er fähig war – er hatte sie schon einmal geküsst. Wut stieg in ihr auf, Wut über ihre eigene Blindheit und Schwäche. Sie war eine gefallene Frau, die Verachtung und Schande verdiente. Bilder der vergangenen Nacht tauchten wie Gespenster vor ihr auf, und die Scham überkam sie mit solcher Macht, dass sie meinte, darin zu ertrinken. Aber war das alles, was sie empfand?
»Was habe ich getan …«
Sie schloss die Augen und horchte in sich hinein. Langsam und gleichmäßig schlug ihr Herz, wie unbeteiligt an den Verwirrungen ihrer Seele und ihres Geistes. Wie viel Zeit hatte sie in seinen Armen verbracht? Eine Sekunde? Eine Ewigkeit? Sie konnte es nicht unterscheiden, Sekunde und Ewigkeit schienen ihr ein und dasselbe. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie einenMenschen so ganz und gar gemeint wie in dieser zeitlosen Zeit. Alle Gefühle, die sie je empfunden hatte, Lust und Schmerz, Freude und Trauer, größtes Glück und größtes Leid – all diese Empfindungen schloss dieser eine Augenblick in sich ein wie ein Parfüm die Essenz zahlloser Kräuter und Blumen, um sie zu einem einzigen Duft zu vereinen.
Die Erkenntnis traf sie wie eine Erleuchtung. Ja, das war es: Sie hatte in diesem einen Augenblick ihr ganzes Leben gelebt, in dieser einen Sekunde, in der sie vor Inbrunst zu verglühen glaubte, hatte sie die Unsterblichkeit ihrer Seele gespürt wie nie zuvor und wohl auch niemals wieder, mit jeder Faser ihres Leibes, vollkommen entrückt und vollkommen zugegen. Hatte sie der heiligen Theresa mehr als nur das Gesicht geliehen? Lorenzos Worte fielen ihr ein. »Gott ist ein Künstler, und er hat sich etwas dabei gedacht, als er Sie erschuf … Auch wenn Sie vielleicht selbst nicht wissen, zu welchem Ende es führt …« War Theresa ihre Schwester? Teilten sie nicht dasselbe Erlebnis, das Erlebnis dieses einen allumfassenden Augenblicks? Bei diesem Gedanken wurde Clarissa plötzlich ganz ruhig, sie hatte die Antwort auf ihre Frage gefunden. Während die Kutsche über die Engelsbrücke fuhr, lächelte sie, und mit dem Lächeln auf ihren Lippen fasste sie einen Entschluss: Sie würde diesen Augenblick in ihrem Herzen aufbewahren wie ein kostbares Parfüm in einem Fläschchen, um ihn für alle Zeiten bei sich zu tragen, was immer im Leben auch mit ihr geschehen mochte.
Als sie Sankt Peter erreichten, schob sie den Vorhang beiseite und schaute hinaus. Noch stand der Glockenturm, doch die Abrissarbeiten waren bereits im vollen Gang. Dutzende von Arbeitern bildeten auf den Baugerüsten lebende Ketten, um das Gebäude Stein für Stein abzutragen. Ganz in Schwarz gekleidet, stand Francesco Borromini auf einer Empore und rief seine Befehle, aufrecht, mit energischen, entschlossenen Gesten.
Ein Fuhrwerk versperrte Clarissas Equipage den Weg, und der Kutscher parierte mit lautem Hoh die Pferde.
Borromini drehte sich um. Für eine Sekunde begegneten sichihre Blicke. Clarissa sah ihm fest in die Augen. Warum hatte er sie nicht besucht? Sie nickte ihm zu, doch ohne ihren Gruß zu erwidern, wandte er sich ab. Sie wartete eine Weile, dann beugte sie sich aus dem Fenster und rief dem Kutscher zu:
»Zum Palazzo Pamphili!«
Als sie wenig später ihre Cousine sah, wunderte sie sich, wie frei und unbefangen sie Donna Olimpia begegnen konnte. Sie hatte sich gerade hingelegt, um bis zum Mittagessen allein zu sein und auszuruhen, da kam ihre Cousine in ihr Zimmer.
»Hast du wieder die ganze Nacht bei deinen Sternen verbracht?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Clarissa und erhob sich von ihrem Diwan. »Sie leuchteten so hell und klar.«
Wie leicht kam ihr die Lüge über die Lippen! Vielleicht weil es gar keine Lüge war?
Donna Olimpia reichte ihr ein Kuvert. »Eben wurde dieser Brief für dich abgegeben. Aus England.«
Clarissa riss den Umschlag auf – erleichtert erkannte sie die Schriftzüge ihres Vaters. Sie schienen ihr kleiner, schräger als sonst, wie von zittriger Hand. Ja, er war alt geworden in diesen Jahren.
Sie faltete den Bogen auseinander und begann zu lesen:
Meine innig geliebte Tochter
,
ich grüße Dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes
!
Die Hand will mir den Dienst versagen, während ich Dir diese Zeilen schreibe.
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