Die Prinzen Von Irland
ihn heute sehen könnte.
Beinahe unbewusst – wie um die Erinnerung an ihn lebendig zu halten – hatte er
nach dem Tod des Alten begonnen, dessen Angewohnheit zu imitieren, die Leute
mit einem Auge zu fixieren, wenn er verhandelte oder sie aus einem bestimmten
Grund eingehender musterte. Wenn sich seine Frau darüber beklagte, hatte er nur
gelacht.
Am Ende der Fish Shambles gelangte er auf den großen Holzquai
hinaus. Gerade wurde eine Gruppe Sklaven, an Eisenringen aneinandergekettet,
die sie um den Hals trugen, von einem der Boote heruntergeführt. Er warf ihnen
einen flüchtigen, doch kritisch prüfenden Blick zu. Sie wirkten kräftig und
gesund. Dyflin war der wichtigste Sklavenmarkt auf der Insel, und regelmäßig
trafen neue Schiffladungen aus dem großen britischen Sklavenhafen Bristol ein.
Die Engländer gaben, da sie seiner Ansicht nach recht langsam und gefügig
waren, gute Sklaven ab. Mit raschen Schritten ging Morann den Quai entlang; er
wusste, wo er seinen Freund antreffen würde. Und da stand er tatsächlich. Er
winkte ihm zu. Harold sah ihn und grinste.
Wunderbar. Er schien
nichts zu ahnen.
Es dauerte eine
Weile, bis sich Harold vom Quai weglocken ließ. Aber er war glücklich, dass
sein Freund gekommen war. Denn er wollte, dass Morann die große Arbeit
bewunderte, an der er gerade saß.
»Wirklich
faszinierend«, bestätigte Morann, der tief beeindruckt war.
Es war ein
Wikingerschiff. In der gesamten Wikingerwelt war dieser Hafen inzwischen für
den Schiffsbau berühmt. An den skandinavischen und britischen Küsten gab es
zwar viele Schiffswerften; aber wenn man das Beste wollte, wandte man sich nach
Dyflin.
Wie jeder andere in
der Stadt wusste auch Morann bereits, dass das neueste Schiff etwas ganz
Besonderes war; aber heute hatten sie einen Teil der Gerüste entfernt, die es
bisher umschlossen, und so konnte man nun die schnittigen Formen des Schiffs
sehen.
»Fast einen ganzen
Meter länger als alles, was je in London oder York gebaut wurde«, erklärte
Harold voller Stolz. »Komm, schau es dir mal von innen an.« Er trat zu einer
Leiter, und Morann folgte ihm; es erstaunte ihn immer wieder aufs Neue, dass
Harold sich trotz seines Hinkens genauso schnell wie jeder andere bewegen
konnte. Flink erklomm er die Leiter und sprang über die Bordwand des Schiffs.
Da Morann ihn erst kennen gelernt hatte, als der junge Norweger bereits im
Hafen arbeitete, hatte er jedoch nicht die geringste Ahnung von den Jahren
schmerzvollen Trainings und harter Arbeit, die zu diesem Ergebnis geführt
hatten.
Seit jener Begegnung
mit Sigurd, der ihm Rache geschworen hatte, war es immer derselbe Tagesablauf.
Schon am frühen Morgen war er auf den Beinen und half seinem Vater auf dem Hof.
Mittag begann dann ein strenges Programm. Zuerst kam das körperliche Training.
Er trieb sich wie besessen an und kannte kein Erbarmen. Allen Schmerz und alle
Demütigung bei seinem ständigen Stolpern und Stürzen ignorierend, zwang sich
der kleine Junge auf dem Bauernhof, so schnell zu gehen, wie er nur konnte,
wobei er sein verkrüppeltes Bein mitzog. Schon bald konnte er, wenn auch auf
eine ungleichmäßige, hüpfende Weise, rennen. Er konnte sogar weite Sprünge
machen, indem er mit seinem gesunden Bein absprang und das lädierte unter sich
einzog, während er über ein Hindernis hinwegsetzte. Nachmittags gesellte sich
sein Vater gewöhnlich zu ihm. Zuerst hatte ihm sein Vater kleine Waffen aus
Holz gebastelt: eine Streitaxt, ein Schwert, einen Dolch und einen Schild. Zwei
Jahre lang war es wie ein Spiel, das er mit ihm spielte und bei dem er dem
kleinen Harold das Stoßen und Parieren, Stechen, Hauen und blitzschnelles
Ausweichen zur Seite beibrachte. »Spring zur Seite! Weich zurück! Spring vor!
Halt die Stellung! Stoß zu!«, schrie er immer wieder. Und blitzschnell hin und
her federnd, sich duckend oder seine Spielzeugaxt schwingend, exerzierte der
Junge jede Übung durch, die sein Vater nur ersinnen konnte. Mit zwölf Jahren
besaß er bereits beachtliches Geschick, und sein Vater pflegte zu lachen: »Dir bin
ich nicht mehr gewachsen!« Mit dreizehn bekam Harold seine ersten echten
Waffen. Sie waren noch leicht, aber ein Jahr später gab ihm sein Vater bereits
schwerere. Mit fünfzehn gestand er seinem Sohn, dass er ihm mehr nicht
beizubringen wusste. Er schickte ihn zu einem Freund an der Küste, der die
Kampfeskunst aufs Höchste beherrschte. Dort lernte Harold sich seine physische
Abnormität sogar zunutze zu machen,
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