Die Prinzen Von Irland
noch immer
saß er verdutzt da. Seine Frau schaute ihn an.
»Was ist?«
»Ich weiß es nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts.«
Er begab sich wieder
an die Arbeit, doch schon wenig später legte er sie erneut beiseite. Wieder war
das Gefühl in ihm aufgestiegen. Eine sonderbare Wahrnehmung. Ein Gefühl von
Kälte. Als wäre nur knapp neben ihm ein Schatten vorbeigegangen.
»Una.«
»Ja, Vater?«
»Geh noch einmal zur
Stadtmauer.«
»Ja, Vater.« Sie war
doch ein gutes Mädchen. Nie ein Wort der Klage. Sie war die Einzige, der er
ganz und gar vertraute.
Obwohl sich ihr
derselbe Ausblick von der Mauer bot wie zuvor, kehrte Una nicht umgehend heim.
Sie hatte gemerkt, dass ihr Vater beunruhigt war. Daher beobachtete sie eine Weile
den Horizont im Südwesten, wo der Liffey–FIuss sich auf die Stadt zuwindet.
Wirbelte da Staub auf, blitzte da eine Rüstung, gab es irgendeinen Hinweis auf
eine Bewegung? Nein, nichts. Endlich beruhigt, beschloss sie, zurückzugehen. Sie
schaute auf die Flussmündung, warf einen letzten flüchtigen Blick auf die
Wicklow–Berge, und plötzlich sah sie die Reiter.
Sie quollen aus den
Hügeln hervor wie ein Bergbach. Sie strömten aus einem schmalen Tal, das zu den
bewaldeten Hügeln im Süden führte, und ergossen sich über die Hänge bei dem
Dörfchen Rathfarnham, das nur vier Meilen entfernt lag. Una sah die
Kettenhemden unzähliger Ritter aufblitzen. Massen von Soldaten, die in drei
Kolonnen marschierten, folgten ihnen. Aus der Entfernung sahen die Kolonnen wie
drei riesige Tausendfüßler aus, vermutlich Bogenschützen.
Plötzlich begriff
sie, was geschehen war. Diarmait und Strongbow waren über die Berge gekommen
statt durch das Liffey–Tal. Sie waren dem Hochkönig perfekt entwischt. Aller
Wahrscheinlichkeit nach war dies das ganze Heer. In einer Viertelstunde würde
es Rathmines erreicht haben. Einen Augenblick beobachtete sie den Anmarsch mit
einer Mischung aus Faszination und Entsetzen; dann rannte sie nach Hause.
Es war überflüssig,
dass Una Alarm schlug. Auch andere Dubliner hatten inzwischen die Armee auf den
Hängen entdeckt. Leute rannten durch die Straßen. Bis Una das Tor ihresElternhauses erreichte, hatte die Familie bereits das
Geschrei vernommen; und in wenigen Augenblicken hatte sie alles, was sie
gesehen hatte, berichtet. Die Frage war nur: Was sollten sie jetzt tun?
Die Straße, in der
sie wohnten, führte zu den Fish Shambles. Sie lagen nicht weit entfernt von den
Quais. Als Una wieder auf die Straße lief, um zu hören, ob es weitere
Neuigkeiten gab, entdeckte sie, dass der Nachbar eine Handkarre belud. »Wenn es
irgend geht, will ich auf ein Schiff«, sagte er. »Ich will nicht hier sein,
wenn die Engländer kommen.« Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lebte ein
Schreiner. Er hatte bereits eine Barrikade um sein Haus herum hochgezogen. Er glaubte
offenbar, durch seiner Hände Arbeit eine Armee abwehren zu können.
Die MacGowans waren
zögerlich. Der Vater hatte seine Kassette verschlossen, und die Mutter hatte
ein paar Dinge in ein Tuch gewickelt, das sie sich auf den Rücken gebunden hatte.
Die beiden Jungen und der Lehrjunge standen neben ihr, und das englische
Sklavenmädchen wollte eher mit ihnen gehen, als von ihren Landsleuten befreit zu
werden.
Kevin MacGowan hatte
es schon immer gehasst, Risiken einzugehen. Deshalb hatte er sich stets bemüht,
für alle Eventualitäten, die seine kleine Familie bedrohen könnten, einen Plan
zu entwerfen. Das Verhalten des Schreiners mochte absurd sein, und die Absicht
seines Nachbarn, zu den Quais zu gehen, schien ihm einer voreiligen Panik zu
entspringen. Es war unwahrscheinlich, dass König Diarmait, selbst mit seinen
englischen Alliierten, die gemauerten Schutzwälle durchdringen könnte. Das
allerdings würde Belagerung bedeuten –Tage oder Wochen des Wartens und im
Notfall viel Zeit, die Stadt von den Quais aus zu verlassen. Alles in allem,
dachte der Silberschmied, sei es nicht klug, jetzt zum Ufer zu eilen. Weniger
leicht war die Frage, was er mit der Kassette tun sollte. Er mochte die Mönche
in der Christ Church nicht belästigen, bis ein triftiger
Grund vorlag. Sollte es zur Belagerung kommen, würde er wohl Weiterarbeiten;
also müsste er ohnehin einige wertvolle Stücke im Haus aufbewahren. Und müsste
die Familie fliehen, würde er vielleicht etwas von seinem Silber mitnehmen
wollen und den Rest in der Kassette in der Christ Church zurücklassen. Es würde
von den Umständen
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