Die Probe (German Edition)
krank.«
»Noch nicht«, grinste Vidal böse. Er sprach ein paar leise Worte mit der Frau, dann verließ er den Raum und verriegelte die Tür. Nach dem Fiasko mit dem Weinkeller hatten sie Michael in diesen kahlen Schutzraum gesperrt, der sich für ihre Zwecke weit besser eignete. Es war eine kahle Zelle, umgeben von massiven Wänden aus armiertem Beton, hermetisch abschließbar durch zwanzig Zentimeter dicke Panzerdeckel. Ein Bunker im Haus als Schutz vor Bomben und Katastrophen, wie er in vielen Gebäuden der Schweiz vorschriftsgemäß eingebaut war. Die gründlichen Schweizer , dachte Vidal belustigt. Wie praktisch diese Einrichtung doch war, denn aus dem Schutzraum drang gewiss kein Ton nach draußen.
Die unheimliche Schwester reagierte nicht auf Michaels Fragen und Beschimpfungen, die zunehmend gereizter, aber auch ängstlicher klangen. Sie öffnete das rote Köfferchen und entnahm ihm eine Plastikschürze. Während sie die schützende Folie umband, beobachtete sie ihr Objekt prüfend, als wollte sie Michael vermessen. Die Schürze war vorderhand eine eher unnötige Vorsichtsmassnahme, denn sie legte großen Wert darauf, saubere Arbeit zu leisten. Das Objekt war verstummt und begann zu schwitzen. Es schnappte angstvoll nach Luft, als sie nochmals in den Koffer fasste. Sie zog einen reich verzierten, gekrümmten Dolch heraus, dessen Klinge schon vor zweihundert Jahren selbst harte Knochen mühelos durchtrennt hatte. Mit einem entsetzten Schrei versuchte Michael auszuweichen, als sie sich näherte, aber sie war schneller. Nach ein paar präzisen Schnitten fiel seine Kleidung von ihm ab, als hätte er sich eben gehäutet, und das Messer verschwand wieder im Koffer. Mit beiden Händen ergriff sie nun das Werkzeug für ihren Auftrag: das Seil des Hobaku-jutsu. Sie verbeugte sich wie ein Priester vor einer geheiligten Reliquie. Ihr Objekt schien beim Anblick des schlichten Stricks erleichtert aufzuatmen. Zu früh, denn das Seil war äußerst kunstvoll geflochten, hatte genau die richtige Elastizität, war rau wie Schmirgelpapier. Und sie war ein Sensei in der Kunst des Hobaku-jutsu, ein Meister, wie es höchstens fünf oder sechs gab auf der Welt.
Sie zog eine Schlinge um seine Handgelenke, bevor er begriff, was mit ihm geschah. Es nützte nichts, als er sich wand wie eine Schlange, zuckte und ausschlug, um sie abzuwehren. Er begann zu brüllen, mehr aus Wut und Ärger über die Demütigung, als wegen des Schmerzes. Aber seine Schreie erstarben sogleich, bis nur noch ein heiseres Röcheln aus seinem Mund kam. In einem tausendfach perfekt eingeübten, lautlosen Höllentanz schnürte die Sensei ihr Opfer zu einem wehrlosen Bündel, die wenigen Knoten exakt an besonders empfindlichen Stellen, die grobe Faser gespannt wie ein Drahtseil, dass zwar noch Blut floss, aber jede Bewegung Haut und Fleisch aufzureißen drohte. Drei Schlingen um Michaels Hals ließen gerade genug Atemluft in seine Lunge, dass er auch nach Stunden und Tagen nicht ersticken würde. Mit elegantem Schwung schlang sie das Seil der Wirbelsäule entlang über seinen Rücken und zurrte das Ende am Scharnier der Notausstiegsluke fest. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr Kunstwerk zu beurteilen. Das Objekt bewegte sich kaum mehr, nur hin und wieder verfiel es in unkontrollierte Zuckungen, jede gefolgt von dumpfem Stöhnen, Wimmern und Würgen. Sie war zufrieden mit ihrer Arbeit. Mit den acht Metern Seil hatte sie das hässliche Objekt in ein ästhetisch ansprechendes Gemälde verwandelt, wie ihr Meister sie gelehrt hatte. Eine Stunde würde reichen, um das Objekt auf diese Art zu konditionieren, vorzubereiten auf die nächste Befragung. Eine Stunde unbeschreiblicher Qualen. Eine Stunde, so lang wie ein Tag. Sie hängte die Schürze an den einzigen Haken im Raum und entriegelte die Panzertür.
Vidal zählte die Minuten. Ungeduldig lief er in Michaels Wohnzimmer auf und ab, zu erregt, um ruhig sitzen zu bleiben, aber er hielt sich an die Vorgabe der Sensei, wartete, bis sie wieder aus dem Zimmer kam, in dem sie sich eingerichtet hatte.
Die Frau betrat den Raum zuerst, als es soweit war. Sie prüfte rasch den Zustand ihres Objekts, dann trat sie befriedigt beiseite. Beim Anblick des Gefesselten drehte sich Vidal der Magen um, doch er zwang sich, keine Schwäche zu zeigen. Michaels Gesicht war gelb und blau angelaufen. Mit blutleeren Lippen und weit aufgerissenen Augen starrte ihm das Gesicht eines Toten entgegen. Aber er lebte, denn seine Gliedmassen
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