Die Probe (German Edition)
sie:
»Und Sie, mein Lieber, werden so etwas leider nie erleben.« Niemand rührte sich, als sie zur Tür schritt. Bevor sie den Saal verließ, blickte sie nochmals über die Schulter zurück in die versteinerten Gesichter und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich bin dann mal weg. Den Rest erledigt mein Anwalt.« Als sie die Tür hinter sich schloss, ging ein weiteres Kapitel ihres Lebens zu Ende. Der Mief der noblen Zürcher Privatbank lag hinter ihr. Sie verließ den Schauplatz als strahlende Siegerin. Sie war unbesiegbar.
Selbst ihre luxuriöse Wohnung über den Dächern der Altstadt erschien ihr nun beklemmend eng, aber es eilte ihr nicht, sie zu räumen. Wohnraum an dieser Lage war und blieb eine hervorragende Kapitalanlage. Bei Verkauf oder Vermietung würde sie auf jeden Fall einen satten Gewinn einstreichen, wann immer sie sich dazu entschließen mochte. Zürich lag ohnehin nur einen Katzensprung von ihrer neuen Residenz entfernt. Nur kurz überlegte sie, ob sie wohl doch noch nicht bereit war, alle Brücken zu ihrem alten Leben abzubrechen. Ärgerlich wischte sie den beunruhigenden Gedanken beiseite und begann, die wichtigsten Sachen in die leeren Koffer zu packen. Sie erwartete Louis’ Anruf für den Rückflug morgen oder am Sonntag, und sie wollte auf jeden Fall bereit sein.
Noch ein letztes Mal sonnte sie sich an diesem Abend im Liegestuhl auf der Dachterrasse. Sie schloss die Augen, stellte sich vor, entspannt und sorglos im Park von Halliford Castle zu liegen, dem stillen Paradies nur dreißig Minuten außerhalb Londons, dieser Weltstadt der tausend Möglichkeiten, gegen die Zürich ein behäbiges Bauerndorf war. Zürich, Michael! So sehr sie sich bemühte, sie konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder um ihr altes Leben kreisten. Wo mochte er jetzt sein? Wichtiger: wie würde Louis reagieren, wenn Michael erfolgreich von der Bildfläche verschwände? Sie wollte die alte Geschichte endlich loswerden, aber verdrängen ließ sie sich nicht. Entnervt griff sie zum Telefon und wählte seine Nummer. Wie sie angenommen und insgeheim wohl gehofft hatte, meldete sich nur seine Mailbox. Nach kurzem Zögern rief sie sein Büro am Zürichberg an.
»Er ist auf einer längeren Geschäftsreise, hat er Sie nicht informiert?«, antwortete die Buchhalterin auf ihre Frage.
»Doch, schon, aber ich kann ihn nicht erreichen.«
»Verstehe, uns geht es gleich.« Ihre Stimme klang besorgt. »Seit Tagen haben wir nichts von ihm gehört. Wir müssten ihn dringend sprechen.«
»Was ist los, stimmt etwas nicht?«, fragte sie harmlos.
»Es ist seltsam. Am Morgen nach seiner Abreise lagen die Bücher verstreut im Büro herum, wie nach einem Einbruch, aber es gibt keine Einbruchspuren. Und ...« Sie zögerte plötzlich, wollte nicht weitersprechen.
»Und was?«, drängte Francesca.
»Blutspuren, es gab Blutspuren im Bad und auf der Treppe. Wir machen uns große Sorgen.« Blutspuren, eine ganz neue Wendung der Geschichte. Nachdenklich legte sie auf. Sie sah nur noch eine Möglichkeit, herauszufinden, was wirklich geschehen war: Feusisberg. Morgen würde sie Michaels privates Refugium aufsuchen, ein letztes Mal.
Am frühen Morgen desselben Tages wartete Vidals Chauffeur mit gemischten Gefühlen im VIP Terminal des Flughafens Zürich auf den Gast, dessen Wohl seinem Chef ausserordentlich am Herzen liegen musste. Mit ausgesuchter Höflichkeit sollte er den Spezialisten, wie Vidal ihn nannte, begrüssen und auf dem schnellsten Weg zur Adresse fahren, die in seinem GPS gespeichert war. Dass der geheimnisvolle Gast eine Frau war, die nur Japanisch sprach, machte die Sache für den vierschrötigen Fahrer nicht einfacher. Er hatte lieber klare Verhältnisse.
Er traute seinen Augen nicht, als er das seltsame Geschöpf erblickte. Die Frau reichte ihm gerade bis zur Schulter. Sie trug ein blütenweißes, hochgeschlossenes Kostüm und rote Lackschuhe. Auf dem streng nach hinten gekämmten Blondhaar sass eine Mütze im exakt gleichen Rotton. Mit beiden Händen hielt sie ein ebenso rotes Lederköfferchen an die Brust gepresst. Das Erstaunlichste aber war ihr fahles Gesicht, das eine weiße Schutzmaske zur Hälfte bedeckte, als hätte sie Angst vor fremder Luft. Er hätte sie für eine gewöhnliche japanische Krankenschwester halten können, wären nicht die glühenden Augen gewesen, die ihn aus nachtschwarzen Abründen wie aus einer anderen Welt anstarrten.
Hypnotisiert durch ihren Blick, vergaß er beinahe,
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