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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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sich respektvoll zu verbeugen, wie Vidal ihm eingeschärft hatte. Sie deutete nur ein kurzes Nicken an, sonst rührte sie sich nicht. Ein Crewmitglied übergab ihm wortlos ihren Reisekoffer, dann folgte sie ihm so geräuschlos zum Wagen, dass er sich fragte, ob sie überhaupt den Boden berührte und atmete. Sie setzte sich in den Fond, das rote Köfferchen auf dem Schoß. Er verdunkelte das Trennglas und atmete auf, sobald er sie nicht mehr sah. Als er losfuhr, fröstelte ihn, und er drehte die Lüftung herunter. Es war richtig kalt geworden in der Nähe dieses unheimlichen Wesens. Während der Reise entlang dem Ufer des Zürichsees versuchte er, nicht an seinen Fahrgast zu denken, denn eigentlich gehörte die Fahrt auf dieser reizvollen Strecke zu den wenigen Sonnenseiten seines Berufs. Das atemberaubende Alpenpanorama, das sich kurz nach Wädenswil vor ihm ausbreitete, zählte zu den schönsten Landschaften, die er kannte. Übertroffen vielleicht nur noch vom Blick auf den Genfersee und die Weinberge des Lavaux kurz nach Vevey.
    Die Stimme des Navigationsgeräts riss ihn aus seinen Gedanken. Er lenkte den schweren Wagen die steile Bergstrasse hinauf und fuhr im Schneckentempo hinter dem gelben Postauto her nach Feusisberg. Das GPS führte ihn zuverlässig zum noblen Landhaus am Eingang des Dorfs.
    Kaum hatte er die Tür zum Fahrgastraum geöffnet, eilte Vidal in Begleitung seines Bodyguards herbei. Mit einer tiefen Verbeugung und in fließendem Japanisch begrüsste er die Frau unterwürfig. Sie schenkte auch ihm nur ein kurzes Nicken, doch dann begann sie zum ersten Mal zu sprechen, mit dunkler Stimme, leise, dass die Umstehenden kaum ein Wort hörten. Mit ausgesuchter Höflichkeit bat Vidal seinen Gast ins Haus, das nun für seinen Besitzer zum Gefängnis geworden war. Die Frau ignorierte den Sessel, den er ihr anbot, überreichte ihm wortlos einen verschlossenen Umschlag und wartete. Er öffnete ihn ungeduldig. Sein Gesicht hellte sich auf, als er die Papiere überflog. Er zog den Begleitbrief aus dem Couvert und begann zu lesen. Kichi, der brave Diener seines Herrn, hatte im elektronischen Archiv des Analyseautomaten bei Saitou Kopien der Messprotokolle gefunden, die Dr. Griffith so nachhaltig verleugnete. Und er hatte seine Interpretation für Laien beigefügt, ohne die Vidal keine der verwirrenden Zahlen und Grafiken verstanden hätte. Nun aber begriff er nach wenigen Sätzen, welch ungeheure Entdeckung die Chemikerin gemacht hatte, und er wusste augenblicklich, dass er nichts unversucht lassen würde, das Geheimnis ihrer Materialprobe zu lüften. Zuviel Geld und Macht standen auf dem Spiel.
    Die tiefe Stimme der Frau holte ihn unsanft in die Gegenwart zurück:
    »Wo ist er?« Erschrocken entschuldigte er sich. Er steckte den Umschlag ein und ging voran zur Kellertreppe.
    »Bitte folgen Sie mir.«
Feusisberg, oberer Zürichsee
    Rasch stieg Vidal die Treppe hinunter. Die Frau in seinem Rücken verursachte selbst ihm Gänsehaut, als schliche eine unhörbare Schlange hinter ihm her. Eine Boa Constrictor, das war diese Spezialistin im wahrsten Sinne des Wortes, und sie hatte mit ihrer perfiden Kunst bisher noch jeden zum Sprechen gebracht. Er hatte sie bisher noch nie in Aktion gesehen. Keiner der wenigen Zeugen ihrer Arbeit hatte je überlebt, aber sie lieferte zuverlässig Resultate. Unter Nakamuras Yakuza war sie eine Legende. Er traute ihr ohne weiteres zu, in kurzer Zeit jeden verbleibenden Cent aus diesem gescheiterten Finanzgenie herauszupressen. Bisher hatte sich der gute Michael Hogan nicht sehr kooperativ gezeigt. Er versuchte offensichtlich auf Zeit zu spielen, doch das war nun vorbei. Auf seinen Wink wuchtete der Mann mit dem Wachhund die schwere Panzertür des Schutzraums auf. Michael hockte an die Wand gelehnt am Boden, Hände und Füße mit Klebeband gefesselt.
    »Na endlich«, ächzte er, als er Vidal erblickte. »Wie lange wollen Sie dieses lächerliche Spiel noch treiben? Was wollen Sie? Ich habe alles verloren, es ist kein Geld mehr da, wie oft soll ich das noch wiederholen?« Vidal lächelte freundlich und antwortete ruhig:
    »Sehen Sie, Michael, das ist genau der Punkt: ich glaube Ihnen nicht. Sie lügen, und deshalb wird sich jetzt Schwester Misa hier ein wenig um sie kümmern. Sie hilft Leuten, die es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen.« Michael betrachtete ihre knabenhafte Erscheinung mit Abscheu und lachte bitter auf:
    »Schwester! Ich brauche keine Hilfe, ich bin nicht

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