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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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oder ein aufgedunsener Körper. Charlies Puls schlug höher, als er sich vorsichtig näherte. Nein, das war keine Baumrinde, die sich um den Körper spannte, es war zweifellos Haut. Mit dem Stiel des Hakens und den bloßen Händen begann er fieberhaft, den Körper freizulegen, als er plötzlich eine Bewegung spürte. Das Ding lebte! Wie vom Blitz getroffen, zuckte er zurück. Vor Schreck erstarrt, beobachtete er, wie sich das riesige Ding langsam aufrichtete. Der Kopf, kaum mehr als zwei wulstige, breite Lippen, über denen schwarze Glubschaugen lauerten, drehte sich in seine Richtung. Das Ungeheuer musterte ihn eine Weile ruhig, dann verlor es das Interesse und schwamm mit wenigen kräftigen Flossenschlägen außer Sichtweite.
    Idiot , ärgerte er sich, als er den Haken aufhob, den er vor Schreck fallen gelassen hatte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, worauf er sich eingelassen hatte. Er wusste nicht, welchem Giganten er eben begegnet war, noch hatte er auch nur die leiseste Ahnung, was ihn hier unten sonst noch alles erwartete. Er konnte nur hoffen, dass ihn seine Körpergröße und die schreienden Farben des Taucheranzugs vor Angriffen unbekannter Raubtiere schützten. Er hatte nicht die geringste Lust, einer ausgehungerten, sechs Meter langen Anakonda oder einem gelangweilten Kaiman zu begegnen. Kurz davor, sofort aufzutauchen, überwand er sich doch, weiterzusuchen. Verbissen unterdrückte er die Furcht vor dem Unbekannten und zog weiter seiner imaginären Spirale entlang. Sein Freund musste hier irgendwo liegen. Er kontrollierte seine Uhr. Vierzig Minuten dauerte der Tauchgang nun schon, bisher ohne den geringsten Hinweis. Er schwamm um ein Gebüsch herum, hinter dem er eine ruckartige Bewegung festgestellt hatte. Eine Art Aal, so lang wie eins seiner Beine, zuckte aufgeregt hin und her. Er hatte sich festgebissen – im Gesicht eines menschlichen Körpers, in Ryans Gesicht, wie er sofort mit Entsetzen erkannte. Sein Atem stockte. Er kämpfte hart gegen die aufsteigende Übelkeit. Der leise Hoffnungsschimmer auf ein gutes Ende wich erbarmungsloser Gewissheit. Er hatte seinen unglücklichen Freund gefunden. Wütend verscheuchte er das hungrige Tier und prägte sich die Fundstelle gründlich ein. Dann tauchte er auf, um Eduardo herbeizurufen.
    Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich orientiert hatte. Er schätzte, dass er etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt war, an der sie das Boot festgemacht hatten. Er fand den zersplitterten Baum, aber kein Boot. »Warum zum Teufel«, brummte er gereizt. Was fiel diesem Blödmann ein, die Basis zu verlassen? Damit brachte er ihn unnötig in Gefahr. Er klammerte sich an den Stamm eines nahen Baums, stieg auf einen Ast, der aus dem Wasser ragte, und schaute sich gründlich um. Keine Spur von Eduardo und dem Boot. »Verdammt!« Allmählich wurde die Geschichte ungemütlich. Er begann zu rufen, so laut er konnte, vergeblich. Außer ein paar Vögeln, die er aufschreckte, stellte er keine Reaktion fest. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, zu beobachten und hin und wieder zu rufen. Was war geschehen? Ein Unfall? Aber was konnte die Ursache sein? Weshalb war keine Spur vom auffälligen Boot zu sehen? Eine Stunde harrte er in der unbequemen Stellung aus, zwei, dann war auch das letzte Fünkchen Zuversicht verflogen. Eduardo, sein hilfreicher Begleiter, hatte sich mit Boot, seinen Habseligkeiten und vor allem mit Ryans kostbaren Dokumenten aus dem Staub gemacht wie ein feiger Wegelagerer. Charlie saß fest, mitten im überschwemmten Regenwald, in einer gottverlassenen Gegend weitab jeder Zivilisation, ohne Kommunikationsmittel, ohne Nahrung. Er wusste noch nicht einmal genau, wo er sich befand. Ausgesetzt, allein unter gefräßigen und giftigen Viechern, deren Existenz er nur erahnen konnte, und mit der Leiche seines Freundes Ryan.
Osaka
    Frustriert steckte die junge Frau das Handy in die Tasche, als der Zug einfuhr. Mindestens ein dutzend Mal hatte sie versucht, ihren Vorgesetzten anzurufen, nachdem sie sich vom schlimmsten Jetlag erholt hatte, den sie je ertragen musste. Sie war von katzenhafter Gestalt, eine Pagenfrisur aus kurz geschnittenen, rabenschwarzen Haaren umrahmte ihr feines Gesicht mit den wachsamen braunen Augen und der etwas spitz geratenen Nase. Sie war in ein elegantes blaues Deuxpièces gekleidet, wie viele andere Geschäftsfrauen, die hier Osakas Untergrundbahn benutzten auf ihrem Weg ins Büro. Sie fiel nicht weiter auf, außer, dass sie keine

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