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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Freude! Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätten wir natürlich Ihren Tisch freigehalten, verzeihen Sie.«
    »Kein Problem, Charles. Wie geht es Ihnen?« Und mit einem Seitenblick auf seine Begleiterin fügte er hinzu: »Ich bin sozusagen inkognito hier, verstehen Sie?«
    »Selbstverständlich, Monsieur.« Francesca hätte es wissen müssen. Vidal war häufig in der Schweiz und gehörte zur obersten Schicht des Geldadels. Kein Wunder, war er ein guter Bekannter in diesem Gourmettempel. Als sie bestellt hatten, beugte sie sich vor und fragte in vertraulichem Flüsterton:
    »Nun, Monsieur Vidal, was können wir für Sie tun?« Sein gelöster Gesichtsausdruck wandelte sich augenblicklich. Ihr saß nicht mehr der lässige Genießer gegenüber, sondern der nüchterne Geschäftsmann Vidal, dessen wachsame Augen alles sahen, und der keine Nachlässigkeit dulden würde. Kurz und bündig schilderte er ihr seine Vorstellung einer möglichen Zusammenarbeit, und die hatte es in sich.
    »Interessiert?«, fragte er lächelnd, als er fertig war. Sie betrachtete ihn eine Weile schweigend, dann nickte sie langsam und antwortete:
    »Ich glaube, da lässt sich etwas machen.«
    »Sie glauben?«
    »Sie stellen hohe Ansprüche, sehr hohe.«
    »Haben Sie etwas Anderes erwartet?«
    »Nein, natürlich nicht«, beeilte sie sich zu versichern. »Wir werden Ihnen eine gute Offerte unterbreiten.«
    »Bis Montag.« Sie erschrak. Es war Freitag Mittag. Übers Wochenende war es schwierig, an alle Informationen zu kommen. Als er sah, dass sie zögerte, lenkte er ein: »Warten Sie, ich habe eine bessere Idee.« Sie wartete gespannt. »Gehen wir zweistufig vor.«
    »Zweistufig?« Sie verstand nicht. Er lächelte beruhigend. Der harte, kühle Gesichtsausdruck war verschwunden.
    »Ja, Sie erledigen heute und morgen hier die wichtigsten Abklärungen, und am Sonntag besuchen Sie mich am Empfang in St. Moritz. Da können Sie mich briefen. Den Papierkram erledigen wir später in Ruhe. Wie hört sich das an?« Sie traute ihren Ohren nicht. Hatte er sie eben zu einem Date eingeladen?
    »Äh – ja – tönt verlockend«, stammelte sie unbeholfen. »Danke für die Einladung.«
    »Mein Chauffeur wird Sie am Sonntagmorgen abholen. Geben Sie ihm einfach nachher die Koordinaten.« Die Zeit reichte nicht mehr für die hausgemachten Pralinen zum Dessert. Sie verabschiedete sich gleich vor dem Hotel, ließ sich nicht ins Büro zurückfahren. Eine andere Adresse war jetzt wesentlich wichtiger.
    Das Haus, an dem das Taxi sie absetzte, lag nur einen Kilometer weiter westlich am noblen Zürichberg, dem exklusiven Viertel der reichen Witwen, Wirtschaftsanwälte und Edelzahnärzte hoch über dem Zürcher Seebecken. Die herrschaftliche Jugendstil-Villa lag in einem Park mit altem Baumbestand, gut geschützt hinter hohen Hecken. Sie läutete an der Gegensprechanlage beim Tor zur Einfahrt.
    »Wer ist da?«
    »Hallo, ich bin’s, Francesca.« Das schwere Eisengitter schwang auf und sie schlüpfte rasch hinein. Sie rannte den Kiesweg hinauf und verwünschte ihre High Heels. Sie musste dringend mit Michael sprechen, der hier seine feudalen Büros eingerichtet hatte. Sie stürmte in die oberste Etage, ohne die monumentale Eisenplastik am Fuß des Treppenaufgangs, die beiden grellen Warhol-Originale in der Eingangshalle, die kunstvollen Mosaikfenster auch nur eines Blickes zu würdigen.
    »Michael, es gibt Arbeit!«, rief sie außer Atem, als sie die Tür zum Handelsraum aufriss. Nur einer der zwei Desks war besetzt. Walter, Michaels Assistent, saß im Halbdunkel vor seinen vier großen Bildschirmen und telefonierte. Ohne das Gespräch zu unterbrechen deutete er hinaus, zur Galerie. Ihr Freund hielt offenbar Zwiesprache mit seinen Kunstschätzen im Turmzimmer, was er stets tat, wenn er auf eine Eingebung wartete. Er stand mit hängenden Schultern an einem der Fenster zum See und wandte ihr den Rücken zu, als sie eintrat. Seine ungewohnte Haltung alarmierte sie. »Michael, was ist los?«
    »Ryan ist tot«, sagte er mit belegter Stimme, ohne sich umzudrehen.
    »Dein Bruder?«
    »Warum musste der Kleine unbedingt in diesem verdammten Dschungel herumschnüffeln?«
    Sie küsste ihn flüchtig. »Tut mir leid, Michael, mein Beileid. Was ist geschehen?« Sie kannte Michaels Bruder nicht sehr gut, aber sie wusste, dass ihr Freund sich stets als eine Art Ersatzvater um Ryan kümmerte. Und das, obwohl der keinen Hehl aus seinem Abscheu über Beruf und Lebensstil des Bruders machte.

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