Die Probe (German Edition)
hier, die Hämatome. Solche Druckstellen sind ganz typisch für diese Fälle. Auf der linken Seite sieht man sogar einzelne Fingerabdrücke.«
»Sie meinen, es hat jemand mit Gewalt ...?«
»Brutale Gewalteinwirkung, ganz klar, und zwar vor dem Exitus, aber daran stirbt man nicht.« Er schlug das Tuch noch ein Stück weiter zurück und Charlie wollte wegsehen, doch der unerwartete Anblick ließ ihn nicht los. Völlig verwirrt stammelte er:
»Das – das ist eine Frau!«
»Habe ich etwas anderes behauptet?«
»Aber ...« Er erholte sich nur langsam vom Schock.
»Ich dachte, Sie interessieren sich für meine Arbeit«, brummte der Arzt gereizt und deckte den Körper auf dem Tisch wieder zu.
»Tu ich, Doktor, selbstverständlich. Ich habe nur angenommen, das hier sei Ryan, der Fall vom Rio Madeira, Sie wissen schon.«
»Eine kühne Annahme. Wie Sie sehen, habe ich noch anderes zu tun, als auf Ihre Visite zu warten.« Er wandte sich ab und gab Charlie ein Zeichen, ihm zu folgen. »Ihre Nummer 23 liegt im Kühlschrank. Ist auch besser so.« Während er den Einschub aus dem Kühlfach zog, erklärte er in knappen Stichworten, was er gefunden hatte: »Schweres Schädel-Hirn-Trauma und Schürfwunden, wahrscheinlich durch scharfkantiges Gestein. Alter, gut verheilter Bruch des linken Schlüsselbeins. Tiefe Fleischwunden in der rechten unteren Gesichtshälfte, post mortem, wahrscheinlich durch Bisse verursacht. Kein Wasser in der Lunge.«
»Wie bitte? Das heißt, er ist nicht ertrunken?«, fragte Charlie überrascht.
»Sag ich doch. Er ist mit dem Kopf heftig auf einen Fels geprallt und hat aufgehört zu atmen, bevor er im Fluss versunken ist. Es war ein Unfall, leider.« Charlie glaubte, sich verhört zu haben.
»Bitte?« Der Pathologe warf ihm einen zornigen Blick zu und schimpfte:
»Sie sagten doch, Ihr Freund sei den Minas Satú auf die Pelle gerückt. Wenn die etwas mit seinem Tod zu tun hätten, könnten wir die Schweine endlich kräftig in den Podex treten.« Zum ersten Mal empfand Charlie etwas wie Sympathie für den ruppigen Kerl.
»De Souza und seine Leute?«
Der Arzt schaute ihn verblüfft an. »Genau der. Kennen Sie ihn?« Er erzählte ihm die Geschichte in großen Zügen. Als er das belastende Beweismaterial erwähnte, das Ryan gesammelt hatte, leuchteten Dr. Oliveiras Augen auf.
»Jetzt haben wir sie!«, rief er freudig erregt.
»Wir?«
»Klar, ich habe eine Reihe einflussreicher Freunde, die sich für die Leute hier und die Umwelt einsetzen, und die sich nicht von jedem dahergelaufenen Mafioso kaufen lassen. Die Machenschaften der Mine sind uns schon längst ein Dorn im Auge, aber bisher fehlten uns die Beweise, um wirksam gegen sie vorzugehen. Wenn diese Leute ihre Dokumente in die Hände kriegen, hat das letzte Stündchen der Goldgrube geschlagen, das garantiere ich Ihnen.« Charlie liebte diesen Kauz. Es gab keinen Grund, an seiner Behauptung zu zweifeln. Mit seiner Hilfe würde sich die Schließung der Dreckschleuder am Rio Madeira wesentlich beschleunigen lassen.
»Ich kann Ihnen die Unterlagen am Nachmittag vorbeibringen.«
»Sehr gut. Ich werde mich ans Telefon hängen, sobald wir die Formalitäten für Nummer 23 erledigt haben.«
»Ryan war sein Name«, bemerkte Charlie säuerlich.
»Wie auch immer. Ich denke in Zahlen, ist gut für den Seelenfrieden.« Allmählich begann er zu verstehen, wie dieser scheinbar abgebrühte Dr. Oliveira tickte. Er unterschrieb das Protokoll, das die Identifizierung von Ryans Leichnam bestätigte und das dicke Bündel Papiere, die für die Überführung nach Europa notwendig waren. Das UNEP Büro in London hatte die Flüge bereits organisiert, auf denen er den toten Freund bei seiner letzten Reise in die alte Heimat begleiten würde.
Zürich
Seit Tagen hatte Michael nicht mehr durchgeschlafen. Sein Haus über dem Zürichsee hatte er von dem Tag an nicht mehr gesehen, als er den Deal mit Vidals Kapital abgeschlossen hatte. Eine solche Aktion erforderte höchste Aufmerksamkeit und dauernde Beobachtung, und die wollte er nicht dem unerfahrenen Walter überlassen. Wie schon öfter in seiner Karriere als Hedgefonds-Manager lebte er nur noch im Halbdunkel des Handelsraums und schlief praktisch unter dem Desk, wenn er zu müde war, sich auf dem Sessel zu halten. Die kritische Zeit war jeweils ein Uhr nachts, wenn die Börse in Tokio eröffnete. Nach dem, was er eben im Ticker am Bildschirmrand gelesen hatte, war es nun soweit. In dieser Nacht musste es
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