Die Probe (German Edition)
offen stand, ein schmales Fenster auf eine betriebsame Welt. Teilnahmslos schaute sie den Flugzeugen nach, die zur Startbahn oder ans Dock rollten, den Gepäcktransportern mit ihren Kofferschlangen, den weißen Tankwagen, den Arbeitern in Blaumännern, die ihren Dienst taten wie jeden Tag. Aber für sie war dies kein normaler Tag. Sie war hier, um den Menschen zu treffen, der einst ihre Leidenschaft entfachte, sie vergötterte, und von dem sie nie richtig Abschied genommen hatte. Nun war es auch dafür zu spät, und das bedauerte sie zutiefst, doch statt sich die Augen auszuheulen, empfand sie nur eine dumpfe Leere.
Endlich zwängte sich ein grauer Lieferwagen durch das Tor und hielt vor dem Warteraum. Der Fahrer sprang heraus und kam mit einem Bündel Papiere unter dem Arm durch die Glastür auf sie zu.
»Senhora Hogan?«
»Lauren Hogan-Griffith, ja«, antwortete sie mechanisch und erhob sich.
»Mein Beileid, Senhora. Wir – wir wären dann soweit.« Sie schaute unsicher zum Fahrzeug.
»Kann ich ihn sehen?«
»Ich glaube nicht, dass du das tun solltest«, sagte eine Stimme hinter ihr, die sie schon lange nicht mehr gehört hatte, und die sie doch niemals vergessen könnte. Erschrocken fuhr sie herum. Charlie schaute sie besorgt an. Sie glaubte gar, eine Spur von Ängstlichkeit in seinem Blick zu entdecken. »Entschuldige, ich wollte dich nicht überrumpeln, Lauren.«
»Charlie«, hauchte sie tonlos. Im gleichen Augenblick, als sie seinen Namen aussprach, der seit so vielen Jahren nicht mehr über ihre Lippen gekommen war, gaben ihre Knie nach. Geistesgegenwärtig fing er sie auf und drückte sie sanft an seine Brust. Mit Tränen in den Augen begann sie leise zu schluchzen, als hätte seine Gegenwart einen Bann gebrochen, der ihr den Zugang zur Trauer verwehrt hatte. Der Angestellte zog sich respektvoll zurück. »Entschuldige«, seufzte sie schließlich verlegen, ohne sich von ihm zu lösen. »Es ist doch schlimmer, als ich erwartet habe.« Sie versuchte zu lächeln, aber die Tränen schossen ihr abermals in die Augen. Er reichte ihr ein Taschentuch und murmelte:
»Es ist gut, Lauren. Es tut mir leid, dass ich nichts für ihn tun konnte.«
Allmählich beruhigte sie sich etwas. Sie schämte sich für ihren Gefühlsausbruch, aber er hatte sie befreit. Sie konnte wieder atmen, nahm die Umgebung wieder wahr ohne das Gefühl, benebelt zu sein. Sie nahm seine Hand und sagte leise:
»Gott, bin ich froh, dass du gekommen bist. Ich dachte, du wärst schon in Wales.«
»Ich wollte ihn nicht allein ziehen lassen. Wer weiß, was er wieder angestellt hätte«, antwortete er mit schiefem Lächeln. Dann wurde sein Gesichtsausdruck sofort wieder ernst, und er fügte etwas verlegen hinzu: »Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Achtzehn Jahre«, antwortete sie, ohne zu zögern. Es war die Zeit vor dem Studium, als sie beide bei der gleichen Firma in Cardiff eine Lehre als Labortechniker absolvierten. Danach hatten sich ihre Wege getrennt.
»Du erinnerst dich noch ganz genau«, schmunzelte er.
»Wie könnte ich die üblen Verwüstungen vergessen, die du manchmal im Labor angerichtet hast.«
»War wohl nicht ganz mein Ding, wie?« Es tat ihr gut, mit ihm zu reden, und sie hätten sich noch lange über die alten Zeiten unterhalten können, doch unvermittelt holte sie der Anblick des grauen Lieferwagens in der Halle wieder in die Gegenwart zurück.
»Warum soll ich ihn nicht sehen?«, fragte sie ängstlich. Er schilderte ihr die Umstände, unter denen er Ryan gefunden hatte. Bisher wusste sie nicht viel mehr über seinen Tod, als dass er durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Sie verstand ihn nun. Vielleicht war es wirklich besser, ihn so in Erinnerung zu behalten, wie sie ihn gekannt hatte. Aber sie konnte nicht einfach die Papiere unterschreiben und wieder weggehen. Sie nickte und blickte ihn nachdenklich an. »Ich möchte wenigstens den Sarg sehen. Begleitest du mich?« Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie ihn bei der Hand und ging zur Glastür. Der Angestellte stand schon bereit. Er öffnete die Hecktür des Wagens. Ein schlichter, brauner Holzsarg lag auf schwarzem Tuch. Sie drückte Charlies Hand so fest, dass es schmerzte, aber sie brauchte diesen Halt. Sie wagte kaum zu atmen, aus Angst, wieder zu schluchzen. Minutenlang standen sie so vor dem Sarg, der ihr drastisch vor Augen führte, dass ein wichtiges Kapitel ihres Lebens endgültig abgeschlossen war. »Danke«, wisperte sie schließlich. Sie ließ
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