Die Probe (German Edition)
dem Ufer des Tejo. Laurens Anspannung schien sich allmählich zu lösen. Mit sichtlicher Lust zog sie ihn in die winzigen Buchläden, Boutiquen und Galerien, die hier neben zahlreichen Cafés die Strassen säumten. Die ernste und ernsthafte Frau wandelte sich vor seinen Augen wieder in das unbeschwerte, lebenslustige, witzige Wesen, dem er damals insgeheim verfallen war. Unvermittelt standen sie vor dem mittelalterlichen Gebäude des ehemaligen Klosters, in dem sich das A Travessa befand. Als er damals das erste Mal hier gestanden hatte, träumte er von einem intimen Tête-à-Tête mit ihr in diesem exklusiven Restaurant, das hatte er nicht vergessen. Es hatte lange gedauert, aber jetzt war die Zeit gekommen. Sie betraten das Lokal und fanden an einem der Tische im Kreuzgang Platz.
»Du hättest sicher Anderes zu tun, als mit mir hier herumzuhängen«, bemerkte sie zwischen zwei Bissen von ihrem St. Pierre an Saffransauce.
»Anderes schon, aber nichts Besseres«, lachte er. »Ich habe mich für die nächsten Tage entschuldigt. Das hier ist wichtiger.« Den Einsatz in Norwegen musste nun wohl oder übel sein Freund Thorsen übernehmen, den er James vorgeschlagen hatte. Thorsen eignete sich ohnehin besser, er stammte schließlich aus der Gegend.
Osaka
Mai Yoshida ordnete die Stifte in der kleinen Vase und rückte die Schreibunterlage auf seinem Pult gerade. Es war Zeit, zu gehen. Er stand auf, ging aber nicht zur Tür wie gewohnt, sondern machte einen Umweg über Renates Arbeitsplatz. Sie blickte verwundert von ihrer Lektüre auf.
»Mai?«
»Entschuldige, störe ich?«
»Nein, natürlich nicht. Was kann ich für dich tun?«
»Ich – habe nur eine Frage.« Er zögerte. »Es ist sehr persönlich, aber ich bin für ihn verantwortlich.« Sie verstand nicht.
»Von wem sprichst du?« Es kostete ihn offensichtlich große Überwindung, die Frage auszusprechen.
»Tommy. Belästigt er dich?« Im ersten Moment wusste sie nicht, ob sie sich ärgern oder lachen sollte, doch dann begriff sie, dass Mai es ernst meinte. Er machte sich Sorgen um das Verhalten seines Schützlings, nichts als konsequent in seinem ganzheitlichen Weltbild. Da gab es keine klare Trennung zwischen Arbeit und Freizeit, öffentlichem und privatem Verhalten. Alles stand im Einklang, musste harmonisch zusammenpassen. Sie lächelte beruhigend.
»Nein, du musst dir keine Sorgen machen. Er ist ein Heißsporn, aber er wird sich bei mir die Hörner abstoßen. Seine Sprüche stören mich nicht. Ich bin nicht interessiert, und er weiß es.« Mai atmete auf.
Ein schwerwiegendes Problem hatte sich in nichts aufgelöst. Nun war der Weg zur Tür frei.
»Gut, ich danke dir. Gute Nacht.« Renate war allein. Sie klappte den Ordner zu und schaute sich gründlich um im Großraumbüro. Keine Handtaschen, keine Mappen, alle Arbeitsplätze machten einen verlassenen Eindruck. Sie öffnete die Tür zum Korridor. Auch hier keine Menschenseele. Sie hatte plötzlich Gewissensbisse, aber die Gelegenheit war gut, den dreisten Plan jetzt in die Tat umzusetzen. Sie rief Daisy an.
»Jetzt oder nie«, schmunzelte sie, als sie das Büro betrat.
»Sollen wir das wirklich tun?«, fragte Renate ängstlich. Sie beide wussten, dass sie kein Recht hatten, Kichis Schreibtisch zu durchsuchen und in seinen Ablagen zu stöbern. Trotzdem, sie wollten wissen, ob er eine Bedrohung für Lauren war. Statt zu antworten, setzte sich Daisy an Kichis Pult und begann, an den Schubladen zu zerren.
»Wir haben schon angefangen«, murmelte sie. »Du solltest aber deinen Posten beziehen für den Fall, dass doch noch jemand auftaucht.« Renate zog sich an die Tür zurück, von wo sie den Flur und die anderen Büros im Auge hatte. Sie sah, wie ihre Freundin vergeblich versuchte, die Fächer des Schreibtisches zu öffnen. Wie befürchtet, klebte auch kein Schlüssel unter der Tischplatte. Aber sie schien doch etwas gefunden zu haben. Jedenfalls saß sie konzentriert über den Tisch gebeugt da und machte eifrig Notizen. Plötzlich fuhr Renate zusammen. Ein Geräusch. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie sich eine Tür am Ende des Korridors öffnete, die Tür zu Laurens Büro. Gelähmt vor Schreck wollte sie Daisy warnen, aber es war schon zu spät. Kichi stand auf dem Flur. Er hatte sie sofort gesehen. Wie vom Blitz getroffen starrte sie ihn an. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie spürte, wie ihr Gesicht rot anlief. Ihre Gedanken überschlugen sich. Fieberhaft überlegte sie, was zu tun war. Er
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