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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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machte einen Schritt auf sie zu, und endlich reagierte sie.
    »Kichi!«, rief sie ihm entgegen, etwas zu laut für die Entfernung. »Lauren ist noch nicht zurück. Sie kommt erst nächste Woche wieder.«
    »Ich weiß, ich – habe ihr den revidierten Monatsbericht hineingelegt.« Er kam näher, schickte sich an, in sein Büro zurückzukehren, aber sie machte keine Anstalten, die Tür freizugeben. Irgendwie musste sie ihn aufhalten. »Du bist spät dran«, sagte er mit undurchdringlichem Gesicht und wartete, bis sie Platz machte.
    »Gleichfalls, aber jetzt ist Schluss. Kommst du auch?«
    »Gleich, ich müsste nur nochmals da hinein. Hab was vergessen.« Das Spiel ist aus , dachte sie niedergeschlagen. Sie konnte nur noch beten, dass Daisy nicht mehr an seinem Pult saß. Bedrückt trat sie zur Seite und ließ ihn vorbei. Sie wagte nicht, ihm zu folgen, lehnte mit geballten Fäusten an die Wand und verwünschte sich, die ganze Situation und die schwachsinnige Idee zu dieser Aktion. Zu ihrer Verblüffung hörte sie keinen gereizten Wortwechsel aus dem Büro, sondern Kichi kam nach kurzer Zeit wieder heraus und sagte ruhig: »Gehen wir.«
    »Äh – meine Tasche«, stammelte sie. »Ich schließe dann ab. Gute Nacht.« Sie blickte ihm nach, bis er im Aufzug verschwunden war. Im Büro regte sich nichts. »Daisy?«, rief sie mit gedämpfter Stimme, als könnte er sie noch hören.
    »Ist er weg?«, kam die Antwort ebenso leise unter einem Tisch hervor. Ihre Freundin stand ächzend auf und streckte die Glieder. »Eine Minute länger und mein Bein wäre abgestorben.« Renate umarmte sie lachend.
    »Tut mir leid, Liebes. Ich – er kam einfach ...«
    »Kein Problem, wie du siehst.«
    »Wir sind Kindsköpfe. Lass uns gehen.« Daisy schaute sie vorwurfsvoll an.
    »Jetzt, wo es interessant wird?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wir haben gerade erst angefangen. Das ganze Büchergestell liegt noch vor uns.« Renate hatte nicht daran gedacht. Im Grunde wollte sie nur so schnell wie möglich weg hier, aber ihre Freundin stand schon bei Kichis Ablage. Systematisch blätterte sie durch die Ordner. Auch die Fachbücher ließ sie nicht stehen. »Du könntest mir ruhig helfen, Schatz«, brummte sie, ohne die Arbeit zu unterbrechen. »Jetzt wird uns niemand mehr stören.« Gemeinsam stöberten sie durch Kichis nicht sehr einleuchtend organisierten Bücher und Dokumente.
    »Ich hab was!«, rief Renate plötzlich. Hinten im Einschlag eines offenbar selten benutzten Standardwerks über Metallurgie steckte ein ganzes Bündel handgeschriebener Notizzettel. Die japanische Schrift war schwierig zu entziffern, aber der häufig auftauchende Name Laurens in Blockschrift und die Datums- und Zeitangaben machten die Bedeutung des Fundes schnell klar. Daisy stöhnte leise, als sie sah, was sie in den Händen hielt.
    »Ein lückenloses Protokoll jedes ihrer Schritte«, murmelte sie ungläubig. Kichi hatte minutiös alle Aktivitäten von Lauren beobachtet und aufgeschrieben.
    »Gruselig«. Renate schauderte. Sie hatte Gänsehaut. »Wieso tut er das?« Sie konnte sich nicht vorstellen, was jemand mit solchen Aufzeichnungen bezweckte, aber sie hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. »Irre«, murmelte sie kopfschüttelnd.
    »Vielleicht nicht so verrückt, wie es aussieht«, sagte Daisy leise, während sie durch die restlichen Papiere blätterte. »Schau mal das hier an.« Sie hielt ihr ein Blatt hin, das ähnlich beschrieben war, mit älteren Datumsangaben. Diese Notizen waren noch mühsamer zu lesen, denn Kichi hatte auch den häufig wiederkehrenden Namen in Kanji geschrieben. Ein Schriftzug, der allerdings öfters auftauchte in dieser Firma.
    »Yamada-san!«, rief Renate überrascht. »Er hat den Boss observiert?«
    »Ich denke, es zahlt sich aus, das alles zu kopieren. Wir sollten das in Ruhe durchlesen.« Ihr beinahe missglückter Fischzug hatte sich doch noch gelohnt.
    Mit den wertvollen Kopien in der Tasche verließen sie das Gebäude. Es war spät geworden. Renates Magen knurrte. Ein Seitenblick auf ihre Freundin genügte, und sie betraten die schlichte Nudelküche auf halbem Weg zur Metrostation, aus der es zu jeder Tages- und Nachtzeit so würzig duftete. Mit Heißhunger fiel sie über ihr Okonomiyaki her, eine Art Pfannkuchen, gefüllt mit Fleisch, Nudeln und Gemüse, ihr Lieblingsgericht, seit sie in dieser Stadt lebte. Daisy stellte die leere Suppenschüssel beiseite und beobachtete schmunzelnd, wie sich ihre Freundin hingebungsvoll dem

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