Die Probe (German Edition)
seine Hand los und ging zurück in den Warteraum. Wortlos unterschrieb sie die Papiere, dann verließen sie zusammen den Ort, an dem sie die Vergangenheit gleich doppelt eingeholt hatte.
»Was ist eigentlich mit Michael?«, fragte Charlie unvermittelt, als sie in die Abfertigungshalle zurückkehrten.
»Beschäftigt, wie immer«, antwortete sie abfällig. »Hat keine Zeit für so was. Er hat sich immerhin zur Beerdigung angemeldet.«
Warum wunderte er sich nicht? Ryans smarter Bruder würde eines Tages kaum Zeit für seine eigene Beisetzung finden. Lauren war wieder die selbstbewusste, forsche Frau, die er schon früher bewundert und auch ein wenig gefürchtet hatte. Die Frau, die ihn stets als guten, zuverlässigen Freund betrachtet hatte, wie sie selbst sagte, als Kumpel, mit dem man unbeschwert scherzen, lachen und Schabernack treiben konnte. Es war die Angst, dieses wunderbare Verhältnis zu zerstören, die ihn damals davon abhielt, ihr seine wahren Gefühle zu zeigen, bis es zu spät war. Und jetzt musste er sich eingestehen, dass sich in all den vielen Jahren nichts geändert hatte. Es half nichts, wie er es auch drehte und wendete, die Frau neben ihm war im Begriff, ihm wieder den Verstand zu rauben, und sie wusste nichts davon, genau wie damals. Schämen sollte er sich, doch er spürte nur wachsende Unruhe und Abscheu vor der eigenen Mutlosigkeit.
»Hast du kein Gepäck?«, fragte sie erstaunt, als sie den Ausgang schon beinahe erreicht hatten. Er schreckte aus seinen Gedanken auf, schlug sich vor den Kopf und lachte verlegen:
»Ich Trottel. Natürlich habe ich Gepäck, auch für dich.«
»Für mich?«
»Ryans Sachen.« Sie holten die beiden Koffer bei der Gepäckausgabe. Kopfschüttelnd, aber kommentarlos, betrachtete sie Ryans schäbigen Plastikkoffer.
»Danke, Charlie, für alles«, und zögernd, als fürchtete sie die Antwort, fragte sie: »Was sind nun deine Pläne?« Er hätte noch am gleichen Abend nach London weiterfliegen sollen. James hatte von einem dringenden Sondereinsatz gesprochen. Alles war klar, er musste zurück an die gewohnte Arbeit, und doch entschied er sich in diesem Augenblick anders.
»Ich begleite dich nach Hause – wenn du nichts dagegen hast.« Wo auch immer sie sich in der Welt aufhielten, nach Hause hieß in ihrer Sprache immer noch: zurück ins Städtchen, wo sie aufgewachsen waren, nach Blaenavon in Wales.
»Nach Hause. Das hört sich so friedlich an aus deinem Mund«, lächelte sie mit einem träumerischen Blick. »Natürlich habe ich nichts dagegen. Ich bin froh, wenn ich das hier nicht allein zu Ende bringen muss.« Er jubelte innerlich. Jede Stunde, die er in ihrer Nähe verbrachte, wog alle Kämpfe mit den Bürokraten seiner Organisation um Einsatzpläne bei weitem auf.
»Gut. Fahren wir zu deinem Hotel. Die werden wohl noch ein Zimmer für mich haben.« Auf der Fahrt in die Stadt wehte warme Frühlingsluft durch das halb offene Fenster. Überall am Straßenrand blühten blaue Lilien auf dem trockenen Kalkboden. »Eigentlich ein Tag zum Flanieren«, bemerkte er beiläufig. Sie nickte nur. »Du könntest mir deine Lebensgeschichte erzählen.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen, was dich interessieren würde«, lachte sie. »Warum beginnst du nicht mit deinen Erlebnissen?«
»Meine missratenen Beziehungen dürften dich noch weniger interessieren. Aber im Ernst, mich fasziniert deine Arbeit, von der ich leider nur wenig gehört habe.« Er zögerte. »Und – wir könnten die alten Erinnerungen ein wenig auffrischen im Bairro Alto.«
»Unsere Abschlussreise«, antwortete sie leise.
»Du hast sie nicht vergessen?« Am Ende ihrer Zeit als Laboranten hatte ihre ganze Klasse einige Tage in Lissabon verbracht und ordentlich auf den Putz gehauen. Auch wenn sie nur über sehr beschränkte Mittel verfügten, reichte es allemal für ein ausgedehntes Nachtessen an den langen Holztischen einer einfachen Kneipe. Eine solide Grundlage war damals wichtig, um die Strapazen der langen Nacht zu überstehen. Wie die Motten ans Licht zog der stampfende Lärm ihre kleine Truppe in die Discos des Quartiers. Und wenn die Läden dort morgens um zwei oder drei dichtmachten, tauchten sie ab ins Santos an die Docks, wo die Clubs und Bars erst bei Tagesanbruch schlossen.
»Wie könnte ich diese paar Tage vergessen. Die letzte Reise, bevor der Ernst des Lebens endgültig begann.«
Eine Stunde später schlenderten sie über das Kopfsteinpflaster der Gassen des Bairro Alto, hoch über
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