Die Probe (German Edition)
Süden. Es blieb nichts anderes übrig, als den Rest des Wegs zu Fuß zurückzulegen. Sie war froh, die dicke Jacke und die Wollmütze dabei zu haben, denn hier auf dem freien Feld wehte ein empfindlich kühler winterlicher Wind. Sie brach einen Ast von einem Strauch, um damit allenfalls Schlangen und anderes unliebsames Kleingetier aus dem Weg zu scheuchen, und stieg weiter ins Tal hinunter. Ein Blick auf das GPS zeigte, dass ihr Ziel weiter nördlich lag. Sie musste links abbiegen, sobald es die hügelige Landschaft zuließ. Bisher hatte sie nichts Außergewöhnliches entdeckt, aber als sich das Gestrüpp vor ihr lichtete und den Blick freigab über die Talsohle, wich sie unwillkürlich zurück. Von Norden her führte eine offensichtlich neue, befestigte Straße dem Tal entlang zu einem eingezäunten Areal, in dessen Mitte ein fensterloses Gebäude aus rohem Beton stand. Das Tor zum Areal stand offen, und vor dem Haus parkte ein Lastwagen. Sie kontrollierte ihre Position. Das Haus lag etwas südlicher als der gesuchte Endpunkt des Probestollens, ziemlich genau über der zweiten Röhre, deren Eingang sie unter Tage gesehen hatte. War das ein Einstieg? Es sah ganz danach aus, dass ihre Messung korrekt war und die Erweiterung der Mine mitten in dieses Wassersammelbecken führte. Ihr graute vor der Vorstellung, dass auch hier eines Tages hunderte, tausende von Tonnen radioaktiven Abfalls gelagert würden, die das kostbare Wasser verseuchen oder über Staubwolken in die Luft gelangen könnten. Was, wenn tödliches Radongas entwich, das in kleinsten Dosen Krebs verursachte? Siebenmal schwerer als Luft, würde es wie Wasser das Tal hinunter auf die besiedelten Gebiete zuströmen, sich geruch- und geschmacklos in Keller und Wohnungen festsetzen. Sie musste Gewissheit haben.
Verbissen kämpfte sie sich durchs Unterholz, bis sie schließlich zerkratzt und keuchend durchs Tor zum Haus schritt. Niemand war zu sehen. Als sie an die Tür klopfte, bemerkte sie, dass sie nur angelehnt war. Da sich auf ihr Klopfen und Rufen nichts rührte, stieß sie die Tür kurzerhand auf und trat ein. Es war kalt und dunkel. Einzig durch den offenen Türspalt drang Licht. Sie schaute sich nach einem Lichtschalter um, und im gleichen Augenblick, als sie ihn entdeckte, erhielt sie einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Die Welt um sie herum wurde vollends schwarz. Kraftlos sank sie zu Boden.
KAPITEL 6
Osaka
D as blasse Liftgirl mit dem traurigen Gesicht und den blütenweißen Handschuhen verbeugte sich tief, als Kichi auf dem Imperial Floor des Hotels aus dem Aufzug trat. Er hatte keine Augen für die ungewohnte Ehrerbietung, denn der Grund seines Besuchs im exklusivsten Bereich des Osaka Imperial war alles andere als erfreulich. Wie schon beim unseligen Meeting in Kioto hatte er nicht viel Neues vorzuweisen und er fürchtete sich vor dem Zorn des Gaijin, der das Ohr des großen Oyabun hatte.
»Suzuki-san, bitte setzen Sie sich«, begrüßte ihn Vidal überraschend freundlich. »Ich habe Sie zu dieser Besprechung gebeten, weil ich beunruhigt bin.« Er schaute ihn mit strengem, forschendem Blick an, als könnte er ihn durchleuchten. »Ich höre Gerüchte über wichtige Veränderungen bei Saitou.« Das war eine Frage. Kichi begann sich etwas zu entspannen, denn darauf hatte er eine Antwort:
»Das ist richtig. Die Gerüchte haben sich heute Morgen bestätigt. Dr. Griffith und ihre Assistentin verlassen uns, und ihr Team wird aufgelöst.«
»Weiß man, wohin Dr. Griffith zieht?«
»Ja, sie wird an der Universität in München lehren.«
»Wann?«
»Bereits Ende Monat. Sie ist hier noch zu zwei oder drei Gastvorlesungen verpflichtet, wie ich gehört habe.«
»Schade«, murmelte Vidal nachdenklich. »Das ist sehr schade. So wird Saitou wohl nicht mehr von Dr. Griffiths großer Entdeckung profitieren können. Das wird Nakamura-san gar nicht gefallen, was meinen Sie?« Kichi lief ein kalter Schauer über den Rücken, als hätte ihn der Andere mit Eiswasser begossen. Machte ihn der Oyabun für diese Verkettung unglücklicher Umstände verantwortlich? Dann konnte er gleich ins Schwert springen. Fieberhaft überlegte er, wie er sein Gegenüber milde stimmen könnte. Information! Er musste irgendeine Information liefern, die der Organisation nützen konnte.
»Vielleicht hat sie der Tod ihres Mannes bewogen, nach Europa zurückzukehren«, begann er zögernd. Er hatte über seine Chefin recherchiert und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, die
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