Die Probe (German Edition)
den Tagesabschluss, klickte auf das Bestätigungsfeld, loggte sich aus und verabschiedete sich. Michael saß allein in der Villa am Zürichberg an den Bildschirmen im Handelsraum. Dasselbe Ritual wie an jedem Arbeitstag, und doch würde heute alles anders enden. Es war die Nacht der Nächte! Um zwei Uhr morgens, pünktlich zu Handelsbeginn in Tokio, erwartete man eine wichtige Ankündigung Saitous. Dann musste die Ungewissheit endlich ein Ende haben, die den Kurs der Aktie in den letzten zwei Wochen lustlos am Abgrund vorbeischrammen ließ. Reichlich Zeit für ein wenig Schlaf, denn vorher würde sich nichts mehr bewegen, doch er fand keine Ruhe. Liegt wohl am Kaffee , versuchte er sich einzureden, obwohl er genau wusste, weshalb er bis aufs Äußerste angespannt vor dem Monitor ausharrte. Er hatte einfach ein ganz mieses Gefühl, eine Vorahnung vielleicht, wie sie ihn normalerweise von einem schlechten Deal abhalten würde, aber dieses Geschäft war schon abgeschlossen. Er konnte nur noch warten und zittern, auf dem Bleistift kauen und weiter Kaffee in sich hineinschütten. Südaustraliens Behörden hüllten sich in Schweigen. Der Entscheid über die Zukunft von Saitous Uranmine war hängig. Es gab immer noch Hoffnung.
Er schreckte auf. Aus einem der Lautsprecher piepste ein durchdringendes Alarmsignal. Er musste doch eingenickt sein. Der Rücken schmerzte von der verkrampften Haltung, sein Nacken fühlte sich steif an und in den Schläfen spürte er jeden Pulsschlag. Bestürzt schaute er auf den Bildschirm: 08:40 Uhr Lokalzeit in Tokio. Er rannte ins Bad, kühlte die brennende Kehle rasch mit einem großen Schluck kalten Wassers und hielt den Kopf kurz unter den belebenden Strahl. Zurück am Pult drückte er die Kurzwahltasten, die ihn mit seinen Partnern in Asien verbanden. Er hielt alle fünf Leitungen offen, um sofort mit jedem sprechen zu können. Die Tabelle mit den Echtzeitkursen des TSE, des Tokyo Stock Exchange, hatte er in die Mitte des Bildschirms gerückt, die englischsprachigen Nachrichten rollten laufend durch ein Fenster daneben. Alles, was mit Saitou oder der Mine in Australien zu tun hatte, würde automatisch durch auffällige Farbgebung hervorgehoben. Das Rechenblatt mit seiner Optionsposition hatte er in die linke obere Ecke des Bildschirms platziert. Der laufend aktualisierte Wert seiner riskanten Anlage in Yen und Dollar prangte in großen, fetten Ziffern am unteren Rand dieses Fensters. Er vermied es, die letzte dieser Zahlen anzusehen. 304 stand da, rot. Bei den aktuellen Aktienkursen waren seine Optionen praktisch nichts mehr wert. Er hatte fast den gesamten Einsatz von 358 Millionen Dollar in den Sand gesetzt. Theoretisch, denn sobald die Kurse wieder anzögen, sähe es ganz anders aus.
»Neues von Saitou? Gibt es neue Gerüchte?«, fragte er nicht zum ersten Mal und erhielt stets die gleiche entnervte Antwort vom anderen Ende der Leitungen. Nichts, Funkstille. 08:55 Uhr. Die Nachrichten wurden zahlreicher auf seinem Bildschirm, aber weiterhin nichts, was ihn interessierte. Wieder die gleiche Frage am Telefon, die gleiche mürrische Antwort. Neun Uhr! Die Kurstabelle begann sich mit den Eröffnungskursen zu füllen. Saitou lag nach drei Minuten bei 800, praktisch gleich wie am Vortag. Immer noch keine Nachricht. Er verwünschte sich, dass er nicht fähig war, die japanischen Originalnachrichten zu lesen. Wer wusste schon, wie viel Zeit verstrich, bis die Informationen auf Englisch aufbereitet waren.
»Saitou News?«, rief er ins Telefon. Vier seiner Kollegen ignorierten die Frage, der fünfte, ein Broker in Tokio, giftete zurück:
»Klappe!« Alle standen unter Strom, wie an jedem Börsentag.
Fünfzehn Minuten nach Handelsbeginn, um 02:15 Uhr Schweizer Zeit erschien die erste brauchbare Nachricht: Saitou Pressekonferenz 09:30, Osaka Imperial . Der Kurs blieb unverändert. Noch zwanzig, dreißig Minuten, dann sollte die Sache klar sein. Michaels konzentrierte sich nur noch auf die Informationen, die über seinen Bildschirm flimmerten und auf die Geräusche in den Telefonleitungen. Ginge das Haus um ihn herum in Flammen auf, er würde es kaum bemerken.
»Sie haben angefangen«, meldete sich der Broker in Tokio. Er verfolgte die Pressekonferenz auf einem seiner Bildschirme und hatte versprochen, ihn laufend zu informieren. Michael wurde ganz ruhig, wie immer in der heißen Phase, nahe der Kernschmelze.
»Blabla über den verunglückten Boss.«
Eine Weile war alles ruhig, auch der Kurs
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