Die Probe (German Edition)
zur Ruhe zu kommen. Nach einer Viertelstunde gab er es auf. Die Gedanken wollten sich nicht sammeln, er brauchte einen starken Kaffee.
Nach wenigen Schritten erreichte er das Frascati, wo er sich an einen der Gartentische setzte. Diesmal musste er keinen Kunden mit dem idyllischen Plätzchen am Zürcher Seebecken beeindrucken, um einen guten Deal einzufädeln. Diesmal ging es um sein nacktes Überleben.
Nach dem zweiten Ristretto, schwarz, ohne Milch und Zucker, war er überzeugt, die wenigen verbleibenden Möglichkeiten, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, in Gedanken durchgespielt zu haben. Im Grunde genommen blieben nur zwei übrig: sich auf einen zähen Rechtsstreit einzulassen, alles zu verlieren und letztlich für längere Zeit ins Gefängnis zu wandern, oder zu verschwinden mit dem, was er retten konnte, und vielleicht irgendwo neu anzufangen. Je länger er darüber nachdachte, desto verlockender und realistischer erschien ihm die zweite Variante. Vom Turm der Kirche Enge, der kleinen Schwester der Pariser Sacré-Cœur am anderen Seeufer, schlug es zehn. Sein Entschluss stand fest. Mit derselben Liebe zum Detail, die er bei seinen Börsenstrategien anwandte, begann er, eine ausführliche Checkliste anzulegen für seine Flucht. Die Stichworte dazu kritzelte er auf die Papierserviette, auf der sein unangetastetes Croissant lag. Er durfte nicht in der Schweiz bleiben, soviel war klar. Seine privaten Anlagepositionen würde er schließen, die Depots auflösen und die flüssigen Mittel, inklusive der fetten Provisionen, die er sich noch überweisen wollte, in seinen anonymen Trust auf den Caymans transferieren. Er hatte dieses sichere Versteck schon vor Jahren eingerichtet, denn in der Schweiz waren solche Konstrukte, entgegen weitverbreiteter Vorurteile, nicht zugelassen. Hier war es unmöglich, ein anonymes Bankkonto nur unter dem Namen eines Treuhänders zu führen, und dem viel gerühmten Bankgeheimnis misstraute er zusehends. Um die wertvolle Kunstsammlung und die Immobilien sollte sich sein Anwalt kümmern, wenn er in Sicherheit war. Unter diesen Millionenbeträgen nahm sich die großzügige Abfindung bescheiden aus, die er für seine Mitarbeiter vorsah. Aber sie hatten ein Trostpflaster redlich verdient, er war schließlich kein Unmensch. Blieb noch die Million Euro, die er in Deutschland angelegt hatte. Die war in guten Händen, soviel traute er Lauren zu, und würde in ein paar Jahren mit Zins und Zinseszins in seinen Trust wandern.
Inzwischen schienen die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach. Er wechselte auf einen schattigen Platz und bestellte ein kühles Bier. Im Geiste ließ er den ganzen Plan nochmals ablaufen. Keine Woche würde er benötigen, um den neuen Michael weit weg von seinem verkrachten Leben wie einen Phönix aus der Asche wiederauferstehen zu lassen. Ein guter Deal. Die einzige Unbekannte in seiner komplizierten Gleichung, ein wichtiger Anruf, musste allerdings bis kurz vor der Abreise warten.
KAPITEL 9
Surrey, England
K aum hatte der silbergraue Rolls-Royce Phantom das stattliche Pförtnerhaus passiert, wähnte sich Francesca in eine längst vergangene Zeit zurückversetzt. Uralte Eichen säumten das Sträßchen. In einer Waldlichtung leuchtete das Strohdach eines sauber herausgeputzten Jagdhauses in der Abendsonne. Ein Reh hatte sich zu nahe an die Strasse gewagt und flüchtete in großen Sprüngen zwischen die Bäume. Hätte plötzlich Robin Hood mit seinen Gesellen den Weg versperrt, sie wäre kaum überrascht gewesen. Der Wald lichtete sich und gab den Blick frei auf ein mittelalterliches Dörfchen aus putzigen Fachwerkhäusern, Stallungen und einer winzigen Mühle, deren altes Gemäuer sich unter immergrünen Ranken versteckte. Dahinter erstreckte sich ein weites Kornfeld, beherrscht von einem behäbigen Schloss mit mächtigem Rundturm und roten Zinnen, das aussah, als hätte Heinrich VIII. hier kürzlich sein neues Lustschloss errichtet. Kaum zu glauben, dass sich diese scheinbar unberührte Welt, in der die Zeit stehenblieb, nur zehn Kilometer südlich von Heathrow befand, wo sie vor einer knappen Stunde aus dem Flugzeug gestiegen war.
»Halliford Castle, Madam«, sagte der Chauffeur. »Mr. Vidal erwartet Sie bereits.« Ihr bester Kunde hatte Wort gehalten und sie für einige Tage auf seinen Landsitz in Surrey eingeladen. Wenn das seine Art war, sich für einen kleinen verbalen Ausrutscher zu entschuldigen, durfte er sich noch wesentlich gröbere Schnitzer
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