Die Probe (German Edition)
leisten. Vidal empfing sie auf der Terrasse, von der man den wildromantischen Park mit einem kleinen See und dem alten Baumbestand überblickte. Weit hinten spiegelte sich das Licht der tiefstehenden Sonne im Wasser eines Flusses, der sich durch den angrenzenden Wald schlängelte.
»Die Themse?«, fragte sie nach der Begrüßung. Er nickte und erklärte nicht ohne Stolz:
»Das Gut erstreckt sich noch etwas weiter südlich. Ein Abschnitt der Themse fließt mitten durch das Grundstück.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte:
»Ein riesiges Gebiet.«
»52 Hektaren. Es reicht für einen kurzen Ausritt.«
»Ich habe die Stallungen gesehen, aber keinen Reitlehrer«, lachte sie. »Den würde ich dringend brauchen.«
»Kein Problem, der Rittmeister wäre mit Sicherheit entzückt, sie einzuweisen.«
»Gehört das auch zum Programm?«, spottete sie. Statt zu antworten, musterte er sie unverfroren. Sie hielt seinem Blick mit kühlem Lächeln stand und wunderte sich. Nach einer Weile murmelte er:
»Francesca, Sie sehen hinreißend aus,.« Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Was hat das mit dem Programm zu tun?«, fragte sie mit demselben kühlen Lächeln.
»Oh, sehr viel, entschuldigen Sie. Sie haben morgen Ihren großen Auftritt.« Er amüsierte sich offensichtlich köstlich über ihr fragendes Gesicht. »Habe ich das nicht erwähnt?«, fügte er scheinheilig grinsend hinzu. Ein paar Tage ausspannen ohne wenn und aber, das hatte er ihr angeboten, und darauf war sie bestens vorbereitet – er würde sich noch wundern. Sie schätzte es nicht, wenn Männer ihre Pläne durchkreuzten. Auch ein Vidal war da keine Ausnahme, aber sie verstand es, ihre Verstimmung als Scherz zu tarnen:
»Ich habe keine Präsentation vorbereitet, wenn Sie das meinen«, antwortete sie mit gespielter Bestürzung.
»Keine Sorge«, lachte er. »Aber ich gebe zu, Sie nicht ganz ohne Hintergedanken eingeladen zu haben.« Sie stutzte. Hintergedanken gehörten eher zu ihrer Rolle.
»Ich bin ganz Ohr«, murmelte sie unsicher.
»Ich möchte Sie für meine niedrigen Zwecke missbrauchen – als strahlende Begleiterin am Royal Ascot. Das wird zu reden geben in der blaublütigen Gesellschaft, und Sie werden Spaß haben.« Das war so ziemlich das Letzte, was sie erwartet hatte. Er wollte angeben mit ihr, sie als Staffage benutzen? Aber Ascot! Ihr Debüt in der ganz dünnen Luft der obersten Gesellschaftsschicht? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, doch all das, was ihr in wenigen Sekundenbruchteilen durch den Kopf schoss, änderte nichts daran, dass sie die einzig mögliche Antwort gab, die jeder Frau in dieser Lage auf der Zunge liegen musste:
»Ich habe nichts anzuziehen.« Er atmete erleichtert auf und entgegnete kopfschüttelnd:
»Sie sehen hinreißend aus, wie ich schon zu bemerken wagte. Egal, was sie anziehen, möchte ich ergänzen.« Sie wollte protestieren, doch er wehrte ab: »Doch, Sie wissen, dass ich recht habe. Allerdings hat meine Hausdame Ihren Einwand vorausgesehen.« Sie warf ihm einen verständnislosen Blick zu, worauf er schmunzelnd erklärte: »Sie hat eine Auswahl extravaganter Hüte bereitgestellt, und da der Rest dazu passen soll, hat sie darauf bestanden, die Schneiderin mit einigen geeigneten Roben aufzubieten. Die Damen erwarten Sie oben im Drawing Room – falls Sie Lust haben. Sie können aber natürlich auch ...«
»Führen Sie mich hin!« unterbrach sie ihn ungestüm. Staffage hin oder her, sie war entschlossen, der feinen Gesellschaft den Kopf gründlich zu verdrehen.
Zwei Tage später saß sie in Vidals privater Box auf der Tribüne des berühmtesten Rennplatzes der Welt in Ascot. Kostbare Seide enthüllte ihre atemberaubende Figur mehr als sie verhüllte, und auf ihrem hochgesteckten Haar thronte ein weit ausladendes, filigranes Gebilde aus lila Federn, die künstlerische Vision eines überdimensionalen Vogelnests. Was bei manch einer anderen Trägerin nur lächerlich gewirkt hätte, präsentierte sie mit augenzwinkerndem Charme als aufregendes Gesamtkunstwerk.
Ihr Auftritt verfehlte die beabsichtigte Wirkung nicht. In kurzer Zeit gelang es ihr, Kontakte zu Vidals Geschäftspartnern, Staranwälten und traditionsbewussten, ehrenwerten Richtern zu knüpfen, an deren unverhohlen geilen Blicken sie ihre helle Freude hatte. Auch ein farbloses Pärchen der Royals aus der zweiten Garde machte ihre Bekanntschaft. Immerhin Angehörige der Crème de la Crème, und das in der ersten Stunde , dachte
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