Die Prophetin vom Rhein
seinen Predigten auf Menschenfang zu gehen. Theresa beobachtete,
wie er sich sorgfältig für die anstehende Reise rüstete und dabei nicht davon abließ, Willem überreden zu wollen, ihn zu begleiten.
Der freilich lehnte kategorisch ab. Die Walkmühlen erforderten seine Anwesenheit. Er sei drauf und dran, weitere Neuerungen einzuführen, die den Ausstoß der Ware beträchtlich steigern könnten. Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern nahmen an Hitze und Häufigkeit zu; doch jeder von ihnen blieb hartnäckig bei seiner Position.
Am Abend der letzten öffentlichen Beichte vor Adrians Abreise schien eine seltsame Spannung über dem Haus zu liegen. Obwohl die anschließende Brotsegnung winkte, die nur selten stattfand, waren weniger Gläubige als sonst erschienen, was der Prediger mit unwilligem Hochziehen einer buschigen Braue registrierte. Die heruntergeleierten Sündenbekenntnisse erschienen Theresa noch belangloser als sonst. Magota gestand unter Tränen, dass sie der Grauen einen Fischkopf hingeworfen habe, was als Verschwendung galt; ein träger, dicker Mann, wie schwer ihn der Streit mit seinem jüngsten Bruder belaste, der von ihm selbst aus Neid und Eifersucht angezettelt worden war.
Willem schüttelte verstockt den Kopf, als die Reihe an ihm gewesen wäre, und presste die Lippen fest aufeinander, was Theresa zum ersten Mal wahrnahm. Sie selbst durfte stumm bleiben - noch. Bislang hatte Adrian van Gent sie von der Pflicht, vor allen anderen ihre Sünden zu gestehen, befreit, wofür sie fast so etwas wie einen Anflug von Dankbarkeit empfand.
Allerdings war dieses Gefühl rasch wieder vergessen, als er sich nun auf eine junge Frau stürzte, die Theresa bei den Versammlungen bislang lediglich durch ihre Schüchternheit aufgefallen war. Sonst war sie stets in sauberen Kleidern
und mit ordentlich geflochtenen Zöpfen erschienen, oft von einer stämmigen Matrone mit strengem Gebände begleitet, die offenbar ihre Mutter war. Heute jedoch schien die Tochter in schlechter Verfassung zu sein: Ihr Gesicht war bleich, das Haar matt und verstrubbelt, als sei sie gerade aus den Federn gekrochen. Sie öffnete den rosigen Mund und schloss ihn wieder, ohne einen Ton herauszubringen.
»Nun, Lyss, was willst du uns allen heute sagen?«, donnerte Adrians Stimme. »Wir warten!«
»Ich …«, begann sie und verstummte abermals, obwohl die Matrone ihr einen ungeduldigen Stoß versetzte.
»Lyss!« Jetzt schrie Adrian beinahe. »Bekenne!«
Blaue Kinderaugen richteten sich flehentlich auf Theresa, als sei sie der letzte Halt in einer untergehenden Welt.
»Den Teufel trag ich im Leib«, flüsterte die junge Frau. »Der gute Gott stehe mir Sünderin bei!«
»Du wirst ihr helfen, es loszuwerden.« Adrian van Gents Augen brannten wie im Fieber, und sein schmaler Schädel erinnerte Theresa an einen Totenkopf. »Dafür durftest du bleiben. Nur deswegen bist du überhaupt bei uns. Ich lasse euch beide jetzt allein, damit du sie untersuchen kannst. Danach stehst du mir Rede und Antwort.«
Es wurde still in Theresas Kammer, als er endlich draußen war. Lyss stand vor ihr wie ein Häuflein Elend, die Augen verweint, das Gesicht so kummervoll verzogen, dass Theresa noch mehr Mitleid mit ihr empfand als vorhin in der Versammlung.
»Willst du dich lieber setzen?«, fragte sie leise.
Kopfschütteln.
»Bist du durstig?«
Abermals ein stummes Nein.
»Was möchtest du dann, Lyss?«
»Tot sein«, brach es aus ihr heraus. »Wenn es nur schon so weit wäre!«
Theresa legte beruhigend eine Hand auf ihren Arm, doch Lyss wich zurück. Ihre Hände waren so klein wie die eines Kindes. Wie ein feines bläuliches Netzwerk konnte Theresa die Adern unter der Haut ihrer Handgelenke sehen. Leben pulsiert kraftvoll darin, dachte sie. So viel junges Leben, während ich ihr den Tod bringen soll.
»Gib mir etwas, damit es ganz schnell geht!«, verlangte Lyss mühsam beherrscht. »Einen Trank, ein Kraut, irgendetwas. Ich will nur nicht mehr daran denken müssen.«
»So einfach ist das nicht«, sagte Theresa und versuchte, mit dem Aufruhr der Gefühle fertigzuwerden, die in ihr tobten. Was sollte sie als Erstes tun? Sie war so verwirrt, dass alles in ihrem Kopf sich nur noch drehte. »Zuerst muss ich einiges über dich erfahren.« Sie strengte sich an, langsam und ruhig zu sprechen, allein schon, um selbst wieder ein wenig gelassener zu werden.
»Wie alt bist du, Lyss?«
»Siebzehn geworden im Januar.«
»Und wann war dein letztes
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