Die Prophetin vom Rhein
Wirkung.
Ihr Wurf war kraftvoll und präzise. Die zweite Schweinsblase von rechts hatte auf einmal einen hässlichen Riss.
Von drinnen hörte man einen erschrockenen Aufschrei, dann Gepolter, als wäre etwas Schweres umgefallen.
»Helft mir!«, rief Theresa, als sich nach einer Weile ein Kopf mit langen dunklen Zöpfen zeigte. »Und macht bitte schnell! Meine Mutter - ich hab solche Angst, dass sie uns gleich stirbt!«
Eigentlich wäre es ja Magotas Aufgabe gewesen, über die Steinbrücke nach Bingen zu laufen, wie sie es sonst gerne tat, Magota mit ihren langen, dürren Beinen, mit denen sie viel schneller vorankam, als Clementia es mit ihren strammen
Schenkeln, die unter der rauen Kutte bei jedem Schritt aneinanderrieben, je vermochte. Allerdings hatte ein Blick der Magistra genügt, um jede Widerrede im Keim zu ersticken, und so war Clementia eben losgerannt. Sie war Hildegards leibliche Schwester, und dennoch genoss sie keinerlei Vorteile, so wollten es nun mal die Regeln des heiligen Benedikt. Doch jetzt wuchs ihr innerer Unwille bei jedem Schritt, während das Öllämpchen in ihrer Hand bereits gefährlich flackerte. Wenn es erlosch, wovor die allerheiligste Mutter Maria sie bewahren möge, würde sie sich im Finstern weiter durchschlagen müssen.
Natürlich waren die Stadttore nachts geschlossen. Wie sonst hätten sie den Bürgern Schutz und Sicherheit bieten sollen? Wer hinein- oder herauswollte, musste also notgedrungen den Morgen abwarten. So viel Zeit aber blieb den frommen Schwestern nicht, wollten sie das Leben der Fremden retten, das in größter Gefahr schwebte.
Vor einiger Zeit hatte Josch ihnen von einer Nebentür in der Stadtmauer erzählt, durch die Fischer schon vor der Dämmerung das ummauerte Bingen verlassen konnten, um mit ihren Netzen und Reusen ihr Tagwerk zu beginnen. Clementia stieß ein erneutes Stoßgebet zur himmlischen Jungfrau aus. Hoffentlich war Joschs Beschreibung auch präzise genug gewesen!
Keuchend und schwitzend kam die Nonne nach längerem Umherirren an der richtigen Stelle an. Alles war so, wie Josch es geschildert hatte. In die Tür aus rohen Holzbrettern war ein Stein gelegt worden, um das Zufallen zu verhindern.
Clementia zwängte sich durch und lief weiter, vorbei an den Reihen von Holzhäusern, die das Stadtbild prägten, weil nur wenige Wohlhabende sich kostspielige Steinbauten leisten konnten. Sie senkte den Kopf, als versuche sie,
sich unsichtbar zu machen, und die breite Liebfrauengass, auf der auch Markt gehalten wurde, erschien ihr unendlich lang. Hoffentlich sah sie keiner. Wie hätte sie auch jemandem erklären können, weshalb zu nachtschlafender Zeit eine der Nonnen vom Rupertsberg ausgerechnet das Haus der Hebamme aufsuchte?
Zu ihrer Überraschung sah sie schon beim Einbiegen in die Salzgasse, in der Josch mit seiner Familie wohnte, im oberen Geschoss seines Hauses Licht, und auch zur ebenen Erde, in der Küche, schienen mehrere Kerzen zu brennen.
Sie atmete tief aus und klopfte an die Tür.
»Schwester Clementia?« Josch hielt einen brennenden Holzspan in der Hand und starrte sie verblüfft an. Er wusste natürlich, wer sie war, und behandelte sie deshalb besonders ehrerbietig. »Ist etwas auf dem Rupertsberg passiert? Aber kommt doch erst einmal herein!«
Er trat zur Seite, ließ sie eintreten. Auf dem Herd brodelte ein großer Topf mit Wasser. Eine junge Frau war damit beschäftigt, ein altes Leintuch in Stücke zu schneiden, eine andere zerstieß etwas in einem Mörser, während die beiden kleinen Söhne mit betretener Miene am Tisch hockten.
»Nachbarinnen, die zum Helfen gekommen sind«, erklärte Josch. »Und meine zwei Rabauken hier sind einfach nicht ins Bett zu kriegen. Jetzt, wo wir bald wieder zu fünft sein werden.«
Von oben hörte man energische Schritte, dann einen lauten, schmerzerfüllten Schrei. Josch nickte den beiden Blondschöpfen beruhigend zu. »Genauso seid ihr auch zur Welt gekommen, erst du, Karl, und dann du, Florin, gute drei Jahre danach.«
»Aber sie kann doch nicht ausgerechnet jetzt kreißen«, stieß Schwester Clementia hervor, die erst in diesem Augenblick verstand, was da vor sich ging.
»Und ob sie kann!«, sagte Josch lächelnd. »Das Wasser ist schon vor einiger Zeit abgegangen, und mühen muss sie sich dieses Mal ganz besonders, denn das Kleine liegt offenbar verkehrt herum mit dem Hinterteil nach unten. Jetzt könnte meine Eva selber eine geschickte Wehmutter gebrauchen, aber sie ist ja die einzige
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