Die Prophetin vom Rhein
traumlosen Schlaf.
Als Lyss am nächsten Nachmittag wiederkam, waren die Zöpfe beinahe so ordentlich geflochten wie früher und die Augen nicht mehr ganz so leer. Theresa gab Melines Ratschläge wortwörtlich an sie weiter und zeigte ihr die präparierten Leinenröllchen.
Die Hand des Mädchens zitterte, als sie sie berührte. »Wird es sehr wehtun?«, sagte sie leise.
»Nicht viel mehr als dein gewohnter Mondfluss, aber es kann stark bluten. Darauf musst du dich einstellen. Bleib im Bett, bis es vorüber ist! Und auch danach solltest du
eine Weile nichts Schweres heben. Am besten wäre es, jemand würde auf dich aufpassen.«
Ein kurzes, freudloses Lachen. »Keine Angst! Mutter wird mich ohnehin keinen Augenblick mehr aus den Augen lassen. Für sie bin ich jetzt die schlimmste Sünderin auf der ganzen Welt.«
Das Leid der Frauen, hatte Meline gesagt. Gebe Gott, dass es dich nicht selbst einmal trifft! Ihnen helfe ich, nicht den Männern. Doch in den blanken Augen der jungen Lyss las Theresa eher verzweifelte Lebenslust und Angst, für die vor allem einer gesorgt hatte: Adrian van Gent.
»An deiner Stelle würde ich die besorgte Mutter noch einmal auf den Markt schicken«, sagte sie. »Mit vielen Aufträgen, die sie dort recht lange aufhalten.«
Lyss warf die blonden Zöpfe nach hinten. Ihr schien plötzlich heiß geworden zu sein.
»In Bamberg bauen sie an einer großen Kirche«, fuhr Theresa nachdenklich fort. »Sankt Gangolf heißt sie und sie bekommt gerade zwei stattliche neue Türme. Noch Jahre werden sie brauchen, bis alles fertig ist. Mein Bruder Gero hat stets davon geträumt, eines Tages in einer Stadt wie Bamberg zu leben. Leider ist er kein Zimmermann geworden, sonst hätte er in der dortigen Bauhütte sicherlich gut bezahlte Arbeit finden können.«
Lyss sah sie schweigend, aber gespannt an, was Theresa weiter ermutigte.
»Woher weißt du das mit den Türmen?«, fragte Lyss schließlich.
»Wir waren dort, als wir unser Zuhause verlassen mussten«, erwiderte Theresa. »Ich kann mich an alles noch ganz genau erinnern. Und Bamberg liegt vor allem genügend weit weg von hier.«
Kein einziges Mal hatte sie bislang etwas von einer Reise
Adrians gehört, die nach Süden führte. Und würde der Diakon der guten Christen überhaupt den Aufwand, der ihm für seinen Neffen Willem sicherlich niemals zu viel wäre, auch wegen eines unbedeutenden Gemeindemitglieds auf sich nehmen?
»Mir ist es früher immer schrecklich schwergefallen, gehorsam zu sein«, fuhr Theresa fort. »Mutter hat deshalb oft mit mir geschimpft. Aber meinem Vater hat es gefallen, wenn ich meinen Willen durchsetzen wollte. ›Mädchen müssen ihren eigenen Kopf haben‹, hat er immer gesagt, ›sonst gehen sie unter in der Welt. Außerdem lernen die Männer dann nicht, dass es außer ihnen noch etwas anderes gibt.‹ Damals wusste ich nichts Rechtes mit solchem Reden anzufangen. Doch jetzt, wo ich älter geworden bin, verstehe ich immer besser, was er gemeint haben könnte. Du auch, Lyss?«
Die rosigen Lippen kräuselten sich sanft. Dann stand die junge Frau auf, bewegte die Hand wie zu einem kurzen Gruß und ging leise hinaus.
Erst als sich die Tür schon eine ganze Weile hinter ihr geschlossen hatte, fiel Theresa auf, dass Lyss etwas vergessen hatte: Die drei getränkten Leinenröllchen auf der Truhe ruhten noch genauso fein säuberlich nebeneinander, wie Theresa sie zuvor für sie hingelegt hatte.
IN DEN WÄLDERN VOR MUNICHEN - SOMMER 1157
Jetzt, da es jeden Tag wärmer wurde, kamen die Mücken. Erst vereinzelt, bald aber schon in Schwärmen fielen sie angriffslustig über die Knappen her, die im Forst zu Ebersberg zur Wache eingeteilt waren. Gero, dessen helle Haut sie besonders
zu lieben schienen, traf es am härtesten, sein dunkelhaariger Genosse dagegen bekam kaum etwas ab. Während Sixt seine Stiche an einer Hand abzählen konnte, plagten Gero dicke rote Beulen, die er Nacht für Nacht blutig kratzte, was den Juckreiz bis ins Unerträgliche steigerte.
Entsprechend gereizt war seine Laune. Ein Blick, ein falsches Wort genügten, um die Funken fliegen zu lassen. Schon mehrmals waren die beiden jungen Männer wegen Kleinigkeiten aneinandergeraten, doch bislang waren die Auseinandersetzungen zum Glück stets glimpflich ausgegangen: ein Veilchen, ein paar Schürfungen, manchmal auch schmerzhafte Prellungen, die aber schnell verheilten. Als Sixt freilich einmal Gero einen Krüppel hieß, weil dessen linkes Bein nach langem
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