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Die Prophetin vom Rhein

Titel: Die Prophetin vom Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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FRÜHLING 1159
    Sie waren ruhig geworden und hörten ihr zu. Endlich!
    Plötzlich jedoch zerschnitt ein zorniger Schrei die Stille. Vergeblich versuchte die junge Mutter, das kleine Kind auf ihrem Arm durch Wiegen und Streicheln zu beruhigen, aber es brüllte nur umso lauter, bis sein Köpfchen krebsrot angelaufen war. Unter den Menschen, die auf dem Domplatz den Worten der Magistra lauschten, kam immer mehr Unruhe auf.

    Hildegard spürte, wie ein Anflug von Zorn sie streifte. Kurz danach wünschte sie, schon im nächsten Augenblick zwischen den Ritzen des unebenen Pflasters zu verschwinden. Diese schrecklichen Jahre, wo solche Stimmungsschwankungen an der Tagesordnung gewesen waren, gehörten zum Glück der Vergangenheit an, das rasch aufbrausende Temperament jedoch hatte sie bis heute behalten. Schwester Hedwig, inzwischen ihre Begleiterin auf den Predigtreisen, weil ein böses Knie Bruder Volmar die Lust am Reiten vergällt hatte, schien zu merken, was in Hildegard vorging, und sah sie bittend an. Dabei zog sie ein derart drolliges Gesicht, dass die kurze Anwandlung sofort wieder verflog. Spontan entschloss sich die Magistra, das Erlebte mit in die Predigt einzubeziehen.
    »In uns Menschen sind nun mal Wasser, Erde, Feuer und Luft, und aus ihnen bestehen wir«, rief sie. »Vom Wasser haben wir das Blut, von der Erde unseren Körper, vom Feuer die Wärme und von der Luft den Atem - wie uns dieses kleine Wesen mit seinem kräftigen Organ gerade anschaulich vorgeführt hat, das mich beinahe in eine wütende Furie verwandelt hätte.«
    Einige lachten, und sogar die giftigen Blicke, die gerade noch Mutter und Kind gegolten hatten, wurden wieder freundlicher.
    »Die Seele ist die grünende Lebenskraft des Fleisches, da ja der Körper durch sie wächst und vorwärtskommt, wie die Erde durch die Feuchtigkeit fruchttragend wird«, fuhr Hildegard mit fester Stimme fort.
    Inzwischen war das Schreien des Kindes in Weinen übergegangen, was zumindest um einiges leiser war.
    »Deshalb müssen wir die Seele hegen wie einen blühenden Garten, der eines Tages gesunde, wohlschmeckende Früchte tragen soll. Ich beschwöre euch: Stöbert alles
Ungeziefer auf und vernichtet es! Umgebt eure Seele fürsorglich mit einem hohen Zaun, der zudringliche Diebe und arglistige Räuber abschreckt! Aber vergesst dabei nicht, ihn mit einer Tür auszustatten, durch die ihr geladene Gäste einlassen, freundlich aufnehmen und bewirten könnt.«
    Noch einmal holte sie tief Luft, denn nun kam der schwierigste Part: die Abrechnung mit einer unfähigen, bisweilen sogar korrupten Priesterschaft, die in der Führung ihrer Gemeinde versagt hatte.
    »Ihr werdet sie schnell erkennen, denn sie singen nicht das Gotteslob«, rief Hildegard, »sondern lassen sich von der Habsucht verschlingen und sehen die Wunden nicht, mit denen sie selbst bedeckt sind. Der Heiligen Schrift gegenüber, die zu ihnen spricht, sind sie taub. Solche Priester werden euch nicht zum Heil führen!«
    Als die Menschen sich später langsam zerstreuten, blieb eine blonde Frau auf dem gepflasterten Domplatz stehen und wartete auf Hildegard. Die rundliche Kleine auf ihrem Arm hatte sich inzwischen wieder beruhigt, aber noch immer rann Rotz aus dem Näschen, und die großen Augen schimmerten feucht.
    »Ich weiß genau, wovon Ihr sprecht«, sagte die junge Frau, »und Ihr tut es so treffend, als wäret Ihr die Posaune Gottes.« Ihr Mund zuckte, und ihre Züge wirkten auf einmal verhärmt. »All das hab ich selbst erlebt und in all der Zeit nicht einen einzigen Priester gefunden, der mir beigestanden wäre. Schrecklich war es, hoffnungslos, und glaubt mir, es hätte mir beinahe den Tod gebracht - und nicht nur mir.«
    Schwester Hedwig, nicht zum ersten Mal, seit sie unterwegs waren, mit Menschen konfrontiert, die vor allem das eigene Schicksal bewegte, hatte sich bereits schützend vor
der Magistra aufgebaut, obwohl Hildegard sie um einen halben Kopf überragte.
    »Die Posaune Gottes ist heute sehr müde, gute Frau«, sagte Hedwig. »Langes Reden strengt die Magistra an. Hinter jeder Ecke kann der nächste Strauchdieb lauern, die Straßen scheinen nur noch aus Löchern und Pfützen zu bestehen, und was erst das Essen in Herbergen betrifft …« Ihr Arm beschrieb eine Kurve, die irgendwo im Nichts erlosch.
    »Die guten Christen hatten mich beinahe schon so weit.« Die Blonde ließ sich nicht abhalten. Inzwischen streckte sie ihr Kind der Magistra entgegen, als erwarte sie deren Segen oder eine

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