Die Prophetin vom Rhein
Maria
und St. Theodor übergaben sie ihre Pferde einer Schwester im weißen Habit, die die Tiere in den Stall brachte und dort versorgte. Ohnehin war Eile angesagt, wollten sie noch rechtzeitig zur Vesper kommen.
»Noch viel einfacher als früher bei uns auf dem Disibodenberg«, flüsterte Hedwig, als sie die schmucklose Kirche betraten, die weder Wandbilder hatte noch größere Verzierungen aufwies. »Damals, als alles noch unfertig war und wir nur von der Chorempore aus am Gottesdienst der Brüder teilnehmen konnten. Erinnerst du dich? Wie vieles hat sich inzwischen in unserem Leben verändert!«
Die gewisperten Sätze ließen vor Hildegard sofort Jutta von Sponheim wieder lebendig werden, ihre geliebte Mentorin, die sie als Kind unterrichtet und später als junges Mädchen ins Klosterleben eingeführt hatte. Stark im Glauben war Jutta gewesen, hatte vor Liebe zu Jesus gebrannt und ihre Hingabe auch anderen durch Reden und Tun zu vermitteln gewusst. Dann aber schoben sich vor diese hellen Szenen aus glücklichen Tagen dunkle Erinnerungen, die bis heute bestürzend und verwirrend geblieben waren. Das kalkweiße, von Schmerzen gezeichnete Gesicht Juttas, das selbst im Tod vergeblich nach Erlösung zu schreien schien. Die blutverkrustete Stachelkette, die sie aus dem abgemagerten Leichnam hatten schneiden müssen, so tief war sie mit dem Fleisch verwachsen gewesen - wie viele Jahre mochte Jutta sich heimlich damit gemartert haben?
»Und es muss sich noch sehr viel mehr ändern«, nahm Hildegard den Faden wieder auf, als sie zwischen den Schwestern im Refektorium saßen und eine mit Mehl angedickte, aber leider nahezu salzlose Gemüsesuppe mit steinhartem dunklem Brot verzehrten, die Clementia niemals auf den Tisch gebracht hätte. »Da, sieh doch nur! Weder
Fleisch oder Fisch noch Butter oder Käse wirst du hier zu essen bekommen - alles im Namen des Heiligen Geistes. Doch der Körper ist kein Feind, den es zu bekämpfen gilt. Nicht nur die guten Christen sehen das falsch, auch große Gläubige vor ihnen haben sich schon auf diesen Irrweg begeben.«
Ihr Blick fiel auf eine ältere Frau, die nicht weit von ihnen saß.
»Gertrud von Stahleck, die sich für den Rest ihrer Tage für dieses karge Leben entschieden hat. Ihr Halbbruder war ein Kaiser, ihr Mann ein Pfalzgraf, der sein Leben mit Kampf, Machtspielen und Hurerei verbracht hat, von gelegentlichen Schenkungen an den Rupertsberg einmal abgesehen, die sein Seelenheil gewiss befördert haben. Erst kurz vor seinem Ende entschloss er sich zur entscheidenden Wende, und er wurde Mönch. Seitdem trägt auch sie den weißen Schleier der Zisterzienserinnen. Wieso ist sie nicht zu uns auf den Rupertsberg gekommen? Die Regeln des heiligen Benedikt bedürfen keiner Verbesserung!«
»Sie ist so dünn wie ein Halm, der in der Erde verdorrt«, flüsterte Hedwig. »Sogar unsere Eselchen auf dem Rupertsberg bekommen mehr in ihre Futterkrippe.«
»Der Körper ist ein Freund, sonst hätte Gott uns doch nicht damit beschenkt. Wie das Himmlische und das Irdische untrennbar verbunden sind, so sind es auch Körper und Seele. Wer das infrage stellt, hat nichts von seiner Schöpfung verstanden.«
Sie war so laut geworden, dass eine junge Nonne sie erschrocken anstarrte. Die Magistra lächelte kurz zurück.
Die Kleine hatte dunkle Brauen und leuchtende Augen wie Richardis und Theresa, aber ein breites bäuerliches Gesicht mit roten Flecken, das ein wenig einfältig wirkte. Hildegard fühlte sich plötzlich leicht schwindelig. In all den
langen Klosterjahren hatte sie nur zweimal eine Gefährtin gefunden, die ihre Seele berührte. Die eine hatte sie an den Tod verloren. Würde sie die andere für immer den Einflüsterungen der Ketzer überlassen müssen?
Kaum war das Essen vorüber, setzte das große Schweigen ein, das bis zur Matutine, dem ersten Gebet in der Nacht, andauern würde. Schwester Hedwig verabschiedete sich nach kurzem Nicken und strebte wenig begeistert dem Dormitorium zu, dessen Betten, wie man allgemein wusste, bei den Zisterziensern lediglich aus hölzernen Planken bestanden, auf denen man sich in eine dünne Decke hüllte.
Hildegard dagegen wurde ins Äbtissinnenhaus geführt, wo bald Gertrud von Stahleck zu ihr stieß.
»Für dieses Wiedersehen, hochwürdige Mutter«, sagte sie mit großer Wärme, »begehe ich meine heutige Sünde, das große Schweigen zu brechen, gern. Und wie wohl ich Euch vorfinde! Das stimmt mich erst recht glücklich. Ich grüße die Harfe
Weitere Kostenlose Bücher