Die Prophetin vom Rhein
auch nichts. Außerdem hat Theresa sie gemieden, seit sie wusste, dass Marlein zur Gemeinde gehört.«
»Eines unserer treuesten Mitglieder!«, rief Adrian. »Ich wünschte nur, wir hätten mehr wie sie, vor allem in diesen Zeiten der Bespitzelung und Verfolgung. Geh sie trotzdem holen! Marlein soll uns helfen. Frauen wird ein Haus leichter geöffnet als einem unbekannten Mann. Deine Theresa muss irgendwo in der Nähe sein. Ich kann sie förmlich riechen.«
Mit ungeduldigen Schritten durchmaß Adrian Raum um Raum, öffnete die Truhen und versetzte allen Dingen, die ihm im Weg waren, ungeduldige Tritte.
»Der Hebammenkorb!«, rief er plötzlich. »Den sehe ich nirgendwo.«
»Sie wird ihn mitgenommen haben«, sagte Willem. »Jetzt, wo sie ihn selbst bald brauchen …« Er verstummte, doch es war bereits zu spät.
Adrian baute sich drohend vor ihm auf. »Du willst doch damit nicht etwa sagen, dass Theresa ebenfalls schwanger ist?«, schrie er. »Von dir? Du hast ihr ein Kind gemacht, du Verlorener?«
»Nicht anders als du Magota …«
Die Maulschelle, die Adrian ihm versetzte, riss Willem
den Kopf zur Seite. Er wischte sich den dünnen Blutfaden ab, der ihm aus dem Mund rann. Seine Augen brannten.
Der Onkel hatte ihn vor vielen Jahren zum letzten Mal geschlagen, kurz nach dem Tod der Eltern, als Willem noch ein Junge war und von der Nachbarin ein Stück Lebzelter stibitzt hatte, weil wegen des kargen Essens, an das er sich erst gewöhnen musste, die Gier nach etwas Süßem zu übermächtig geworden war. Danach hatte Adrian über Tage nicht mehr mit ihm gesprochen, so lange, bis Willem die erste öffentliche Beichte abgelegt und seine Schuld vor allen anderen Mitgliedern der Gemeinde bekannt hatte.
Jetzt waren die Gefühle von damals mit einem Schlag wieder zurück und drohten, ihn abermals zu überwältigen.
Wut. Angst. Und Scham. »Finde sie!«, flüsterte Adrian und hielt das Ohr seines Neffen grob gepackt, als befürchte er, Willem könne plötzlich Fersengeld geben. »Schaff mir die Hure wieder her, und zwar schnell - das bist du mir schuldig!«
»Geht es wieder, Mutter?« Besorgt schaute Schwester Benigna in das kreidebleiche Gesicht der Magistra, die erschöpft am Domportal lehnte. »Hätte ich jetzt nur mein Öl aus Gariofiles, den kleinen, schlauen Gewürznelken, zur Hand! Dünn in die Schläfe gerieben, würde es dich schnell wieder munter machen.«
Der Schwächeanfall hatte Hildegard plötzlich übermannt, nachdem der Platz vor dem Dom sich geleert hatte.
»Was habe ich nur getan?«, flüsterte Hildegard. »Ich wollte sie aufrütteln, mahnen und wieder sehend machen - aber doch nicht das!«
»Du hast das getan, was das Lebendige Licht dir aufgetragen hat. Du bist seine Prophetin. Durch dich spricht es zu uns allen. Und jedes einzelne Wort, das aus deinem Munde kam, war reine, lautere Wahrheit.«
Benigna neigte sich fürsorglich zu ihr.
»Diese Aufregung eben war einfach zu viel. Ich werde dich jetzt hinüber zum Bischofssitz bringen. Dort kannst du dich ausruhen. Komm, stütz dich ruhig fester auf mich! Es sind ja nur ein paar Schritte.«
»Warte!« Die Magistra hob den Arm abwehrend. »Diese Männer dort drüben … Wink sie geschwind herbei!«
Gero und Freimut näherten sich rasch. Beide trugen Gambeson und Schwert, waren aber ohne Brünne und Helm.
»Was ist mit Euch?«, rief Gero, als sie vor den Nonnen standen. »Hat man Euch niedergeschlagen? Dann werden wir die Übeltäter verfolgen und bestrafen.«
Hildegard schüttelte den Kopf.
»Es ist nichts«, sagte sie. »Meine Krankheit heißt Alter, doch das spielt jetzt keine Rolle. Aber dass du hier bist …« Ihr Blick glitt nach oben. »Der Himmel muss meine Gebete erhört haben.«
»Was meint Ihr damit? Ich verstehe nicht ganz …« Gero hatte plötzlich wieder das Gesicht des bockigen kleinen Jungen, wie damals auf dem Rupertsberg.
»Die Magistra hat gerade auf dem Domplatz gepredigt«, erklärte Schwester Benigna. »Dem verderbten Kölner Klerus hat sie die Maske vom Gesicht gerissen und im gleichen Atemzug eindringlich vor der Teufelsbrut gewarnt, die sich gute Christen nennen. Daraufhin kam es zu einem Tumult. Alle, die gerade noch ergriffen zugehört hatten, sind auf einmal blindlings losgestürmt, zu den Häusern ebenjener Ketzer …«
»Nichts anderes haben die verdient!«, rief Gero. »Sollen sie ruhig brennen. Ich hasse diese Teufelsbrut aus tiefster Seele.«
»Aber deine Schwester ist unter ihnen«, sagte die Magistra.
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