Die Prophetin vom Rhein
Besorgnis zu verbergen. Naheliegend, dass er in diesem Augenblick auch an sein eigenes Fortkommen dachte. »Denn selbst in seiner engsten Umgebung gibt es nicht nur Freunde, auch wenn manche dieser Männer es ihn mit aller Macht glauben machen wollen. Erzbischof Heinrich umgibt sich mit den falschen Ratgebern. Meine Sorgen jedenfalls wachsen von Tag zu Tag.«
»Das kann und darf nicht sein!« Die Magistra ließ sich wieder nieder und ballte die Fäuste. »Mein Auftrag, dieses Kloster zu gründen, entsprang keineswegs weiblicher List, wie einige mir immer wieder bösartig unterstellen. Das lebendige Licht erteilte mir den Auftrag. Du weißt besser als jeder andere, wie hart ich dafür bezahle.«
Von jeher hatte Hildegard immer wieder schwere gesundheitliche Rückschläge einstecken müssen, wenn etwas oder jemand ihre Pläne durchkreuzte. Schon als Kind war sie dünn gewesen und oftmals krank, und doch besaß sie eine Zähigkeit und einen eisernen Willen, die er bewunderte. In diesem Moment empfand er tiefe Zärtlichkeit für seine kleine Schwester. So früh waren sie getrennt worden - aber welch außerordentlichen Weg war sie gegangen!
»Der Erzbischof weiß ebenso wie ich, dass Gott zu dir spricht«, sagte Hugo, und seine Stimme war weich. »Aber wird das ein neuer Kirchenfürst auch so sehen? Manche dieser Herren hegen neuerdings, nun sagen wir, durchaus weltliche Anschauungen.«
»Dann muss Heinrich eben Erzbischof bleiben - egal, welcher König den Thron besteigt«, erwiderte Hildegard mit entschlossener Miene. »Was aber könnte ich unwürdige Dienerin Gottes dazu beitragen?«
Hugos Haltung entspannte sich. Der alte Zwist schien begraben. Sie war auf ihrer Seite. Nichts anderes hatte der Erzbischof sich gewünscht. Heinrich von Mainz würde mehr als zufrieden über dieses Ergebnis sein.
»Ich denke, sehr viel, Hildegard«, sagte ihr Bruder. »Mit deinen Briefen hast du inzwischen einen Grad von Berühmtheit errungen, der weit über die Grenzen unserer Diözese hinausreicht. Wenn du nun an den künftigen König schreibst, dass Erzbischof Heinrich unter allen Umständen …«
»Ich warte die Wahl ab«, fiel sie ihm ins Wort. So war sie immer schon gewesen: direkt und kompromisslos. Er liebte diese Eigenschaften an ihr, doch ihm war klar, dass beileibe nicht alle so dachten. »Und werde dann nichts anderes zu Pergament bringen als die reine Wahrheit, die direkt aus meinem Herzen strömt. So habe ich es bisher getan - und nicht anders werde ich es auch künftig halten.«
Theresa löste sich von der Wand, an die sie sich gepresst hatte, um zu lauschen. Eigentlich hatte sie gehofft, die Rede würde auf sie und Gero kommen, darauf, was nun aus ihnen werden sollte, da die Mutter tot war. Doch darüber hatten die beiden kein Wort verloren. Nichts als Könige und Erzbischöfe, lauter langweiliges Zeug, von dem sie kaum etwas verstanden hatte. Das Kloster allerdings schien in ernsthaften Schwierigkeiten zu stecken, so viel hatte sie sehr wohl mitbekommen. War es da nicht besser, Gero und sie liefen auf der Stelle davon, anstatt darauf zu warten, wohin man sie stecken würde?
Willem kam ihr wieder in den Sinn, der stattliche junge
Mann mit den ungleichen Augen. Vielleicht war er noch in Bingen. Dann trennte sie nur die Nahe von ihm, die zurzeit ordentlich Wasser führte und laut unterhalb der Klostermauer brauste. Doch ein Stück entfernt gab es zum Glück die große Steinbrücke. Wenn sie die erst einmal erreicht hätten, war es nur noch ein kurzes Stück bis zur Stadtmauer.
Was aber würde Willem sagen, wenn plötzlich ein zerlumptes Mädchen mit seinem Bruder vor ihm stünde, fremde Kinder, die er gerade einmal zuvor gesehen hatte? Und erst der Onkel mit dem stechenden Blick, der sie angefunkelt hatte, als sei sie eine Ausgeburt der Hölle?
Der schöne Traum zerstob so schnell, wie er gekommen war. Sie würde Willem niemals wiedersehen. Adas Tod hatte Geros und ihr Leben verändert. Nun waren sie ganz allein, ohne jegliche Hilfe oder Unterstützung.
Alles in ihr zog sich zusammen zu einem harten Knoten. Theresas Schultern sanken nach vorn. Dieses Kloster war die einzige Zuflucht, die ihnen blieb, genauso wie ihre Mutter es bereits während der Reise stets prophezeit hatte. Etwas Dunkles legte sich über sie, Trauer, gemischt mit einer abgrundtiefen Mutlosigkeit, wie sie sie noch nie zuvor empfunden hatte. Es war, als wären plötzlich alle Farben ausgelöscht, als wäre die ganze Welt matt und grau
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