Die Prophetin vom Rhein
Richardis’ Herzen hatte sie bis auf die allerletzte Zeit, in der die Freundin ihre künftigen Pläne vor ihr verborgen hatte, wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen können. Theresa dagegen entzog sich, war spröde, schweigsam, oftmals regelrecht störrisch. Hildegard hätte nicht sagen können, ob ihr der regelmäßige Tagesablauf zusagte oder eher missfiel. Klagen hörte sie sie niemals, weder über die karge Kost während der vorösterlichen Fastenzeit noch über die Horen, die den nächtlichen Schlaf lange vor Anbruch der Morgendämmerung beendeten. Doch rechte Begeisterung schien der Alltag im Kloster bei Theresa auch nicht hervorzurufen. Singen wenigstens schien sie zu mögen. Sie hatte eine hübsche, ein wenig flache Stimme, die sich harmonisch in den Chor einreihte, ein Umstand, der die Magistra beruhigte, wenngleich sie nicht hätte sagen können, weshalb.
Im Scriptorium stellte Theresa sich überraschend unbeholfen an. Die Tochter eines Reichsgrafen - da hatte die Magistra eigentlich einen Wissensgrundstock vermutet, auf den sich leicht aufbauen ließe. Doch das Mädchen hielt den Gänsekiel verkrampft wie eine Anfängerin und schrieb so krakelig, dass man es unmöglich an kostbares Pergament lassen konnte, sondern ihm lediglich Wachstäfelchen zum Üben zuteilen konnte. Auch beim Lesen glänzte es nicht, kam nur langsam voran, stockend, als wären die Buchstaben Feinde, und es schien jedes Mal erleichtert, wenn es endlich wieder damit aufhören konnte.
Schwester Hedwig, die große Hoffnungen auf den Neuzugang gesetzt hatte, war fassungslos. Unter Volmars Anleitung hatten sie seit Kurzem damit begonnen, alle Briefe aus der Feder der Magistra in Serie zu kopieren und zu verschicken, weil die Anfragen von nah und fern unaufhörlich zunahmen. Dafür hätten sie eine kundige Hand gut gebrauchen können.
»Ein so großes Mädchen wie du - worin bist du eigentlich all die Jahre unterwiesen worden?«, fragte sie, als sie auch noch feststellen musste, dass Theresa lediglich ein paar kümmerliche Brocken Latein hervorstottern konnte, aber kaum Bereitschaft zeigte, ihre enormen Wissenslücken aufzufüllen. »Hattest du denn keinerlei regelmäßigen Unterricht?«
Theresa zog die Schultern hoch. »Das meiste hab ich wohl einfach wieder vergessen. Nach Vaters Tod war ich lieber draußen«, sagte sie wegwerfend, als sei ihr die Angelegenheit vollkommen gleichgültig. »Mit Gero, oft aber auch allein. Reiten hat mir am meisten Spaß gemacht. All das andere, das langweilige Frauenzeug, hab ich niemals gemocht.«
Damit meinte sie offenbar Nähen, Sticken, Spinnen und Weben, denn auch hierin versagte sie nahezu vollständig.
»Was sollen wir bloß mit dir anfangen?« Hedwig, sonst selten um eine Lösung verlegen, schien ausnahmsweise ratlos. »Jede der Schwestern hat bei uns im Kloster ganz bestimmte Aufgaben, die sie gemäß ihren Fähigkeiten erfüllt. Es muss doch etwas geben, zu dem du taugst!«
»Am liebsten bin ich bei Benigna. Dann fühle ich mich nicht mehr ganz so allein und muss auch nicht ständig an Gero denken.«
Das ernste Gesicht Theresas erhellte auf einmal ein kleines Lächeln. Bislang hatte sie mit keiner Geste, keinem
einzigen Wort zu verstehen gegeben, wie sehr sie ihren Bruder vermisste, der das Kloster verlassen hatte. Es war, als habe sie eine Art unsichtbaren Palisadenschutz um sich gezogen, der allen anderen den Zugang zu ihr verwehrte.
»Lass mich bei ihr sein!«, fuhr sie bittend fort. »Ich mag, wie sie mit ihren Pflanzen umgeht, und dass sie so viel darüber weiß und die Menschen damit wieder gesund machen kann. Was sie mir davon erzählt, kann ich mir schon beim ersten Hören merken.«
Seit sie gemeinsam den Kirschbaum auf Adas Grab gepflanzt hatten, konnte Theresa es kaum erwarten, bis die Blüten aufsprangen. Jeden Tag lief sie zum Friedhof, um nachzusehen, ob es nicht endlich so weit war. Die Vorstellung, dass über der dunklen Erde, die die beiden Toten bedeckte, sich bald ein duftig weißer Blütenhimmel wölben würde, besaß etwas Tröstliches, auch wenn sie wusste, dass diese Pracht äußerst vergänglich war.
Die Magistra zeigte sich einverstanden, als Schwester Hedwig ihr Theresas Bitte unterbreitete.
»Der Mensch hat ja ohnehin Himmel und Erde und die ganze übrige Kreatur in sich«, sagte sie. »Und wenn es unser Klostergarten ist, der sie glücklich macht, umso besser! Hat das Mädchen erst einmal den richtigen Platz gefunden, wird sich auch seine innere Unruhe
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