Die Prophetin vom Rhein
und nahm sich vor, sich noch mehr anzustrengen.
Einmal würde Adrian doch erkennen müssen, welch wertvolles neues Mitglied ihm in ihr erwachsen war! Doch er schien, was das betraf, blind und taub und ganz im Gegenteil bestrebt, ihren Eifer und ihre Ergebenheit durch immer neue Aufgaben wieder und wieder auf die Probe zu stellen.
Den Vertrauten des neuen Erzbischofs, von dessen Verschwiegenheit so viel für die kleine Gemeinschaft abhing, sollte sie auf dem Jakobimarkt zu Ingelheim treffen, wo eine Zusammenkunft im Gewühl nichts Auffälliges haben würde. Wäre es nach Magota gegangen, so hätte sie allerdings einem anderen, ruhigeren Ort den Vorzug gegeben, denn nach den langen Klosterjahren in Stille und Abgeschiedenheit bedeutete es für sie noch immer eine große Überwindung, sich unter vielen Menschen zu bewegen.
Doch Befehl war Befehl. Und sie wollte doch nichts unversucht lassen, um Adrians Gunst zu erringen!
So war sie schon in aller Früh von Bingen aufgebrochen, und sie erreichte den Markt in Ingelheim zur Mittagszeit mit schmerzenden Füßen und ausgedörrter Kehle. Das Gewimmel vor den grob gezimmerten Ständen brachte sie halb um den Verstand. Dazu kam der Geruch nach Vieh und Mensch, der sich in der brütenden Hitze schier unerträglich gesteigert hatte. Magota musste sich sehr zusammennehmen, um nicht auf der Stelle kehrtzumachen. Nach ein paar Schlucken Most, die sie einer Bäuerin um Gotteslohn abgeluchst hatte, fühlte sie sich ein wenig wohler.
Doch wo sollte sie hier Kanonikus Dudo finden, für den die kostbare Last bestimmt war, die sie unter ihrem Kleid
trug? Magota schaute sich nach allen Seiten um - vergebens. Da entdeckte sie plötzlich die Magistra und lief, ohne zu überlegen, zu ihr.
»Mutter!«, rief sie aufgeregt, während Hildegard sich zur Seite drehte, als würde sie am liebsten das Weite suchen. »Das muss ein Zeichen des Himmels sein!«
Hildegard musterte sie schweigend.
Magota kannte diesen Blick nur allzu gut, doch heute traf er sie bis ins Mark. Armselig fühlte sie sich, schuldig, sündig von Kopf bis Fuß. Unwillkürlich schielte sie an sich hinunter. Im Nonnenhabit hatte sie wahrlich besser ausgesehen! Sie, die stets mager gewesen war, war in den vergangenen Monaten so dürr geworden, als hätte ein inneres Feuer alles Fleisch auf ihren Knochen weggeschmolzen. Ihr Kleid war staubig und schweißnass, es hing an ihr wie ein Mehlsack. Plötzlich vermisste sie sogar das schwere Holzkreuz auf der Brust, obwohl es ein Symbol des bösen Gottes war, wie Adrian zu sagen pflegte, und daher teuflischer Tand, der nichts mit der Geistwelt des guten Gottes zu tun hatte, zu der sie alle unablässig streben sollten. Es war nicht immer ganz leicht für Magota zu verstehen, was Adrian van Gent mit seinen verwirrenden Begrifflichkeiten genau meinte. Doch war er nicht ein so leidenschaftlicher, geschliffener Redner, dass man einfach glauben musste, was aus seinem Mund kam?
Die Magistra starrte sie noch immer an, als wäre sie ein Wurm, der vor ihr im Staub zu kriechen habe.
Magota wurde langsam wütend. Dazu besaß Hildegard kein Recht! Schließlich war sie keine Nonne mehr, die der Magistra zu gehorchen hatte, sondern eine freie Frau, und zudem hatte sie einen Anspruch auf das, was ihr Vater beim Klostereintritt bezahlt hatte.
»Ich will endlich meine Mitgift zurück!« Die Worte
drängten sich auf ihre Lippen. »Meine Geduld ist am Ende.«
»Da musst du dich schon an Abt Kuno wenden«, sagte Hildegard und machte Anstalten, einfach weiterzugehen.
Magota packte sie am Arm, hielt sie fest. »Muss ich nicht!«, zischte sie. »Ganz zufällig weiß ich nämlich ein paar Dinge, die wohl besser nicht die Runde machen. Bislang hab ich geschwiegen, sogar noch, als du mich wie eine Verbrecherin vor die Tür gesetzt hast. Doch damit ist es jetzt vorbei. Wenn ich nicht umgehend zurückbekomme, was mir gehört, werde ich Erzbischof Arnold von Selenhofen berichten, was sich in jener Nacht vor zwei Jahren wirklich zugetragen hat. Eine heimliche Abtreibung in Kloster Rupertsberg, und die berühmte Prophetin vom Rhein schweigt - was er dazu wohl sagen wird?«
Die Magistra schien nach Luft zu schnappen, was Magota befriedigt registrierte. Außerdem hatte ihr Gesicht endlich diesen hochnäsigen Ausdruck verloren, der andere dazu brachte, sich vor ihr hässlich und klein zu fühlen.
Eine warme Woge der Zuversicht überflutete Magota. Jetzt kam offenbar Bewegung in die vertrackte Angelegenheit.
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