Die Prophetin vom Rhein
Lass mich mit dir die Last deines Herzens teilen!«
»Das kann ich nicht.« Ihre Lippen waren nur noch eine Spanne voneinander entfernt. »Es wäre zu gefährlich.«
»Ich bin kein Kind mehr. Was immer es auch ist - bei mir ist es gut aufgehoben, das weißt du.«
Statt einer Antwort spürte Theresa auf einmal seine Finger in ihrem Nacken, die sie sanft näher zogen. Ihre Beine begannen zu zittern, doch sie ließ es geschehen. Sein Mund war ganz nah. Alles um sie herum löste sich auf, der Lärm, die Menschen, die drückende Sommerhitze. Sie hörte das aufgeregte Pochen ihres Herzens und spürte, wie weich und fest zugleich seine Lippen waren, als sie sanft, beinahe schüchtern die ihren berührten.
Eine herrliche Ewigkeit lang gab es nur noch diesen Kuss.
Plötzlich riss jemand sie unsanft auseinander. »Lass sofort das Mädchen in Ruhe!« Die Stimme des jungen Küfers klang aufgebracht. »Sonst kannst du gleich der Nächste werden, dem ich heute Beine mache.«
Willem funkelte Peter an, zog sich zurück, blieb aber stumm.
Was geht dich das an!, wollte Theresa empört rufen,
doch dann verschlug es ihr die Sprache. Im Schatten eines Gemüsekarrens hatte sie eine magere Gestalt entdeckt, die mit finsterem Gesicht in ihre Richtung starrte: Magota, die ihr zwei gespreizte Finger entgegenstreckte - das hässliche Zeichen des Gehörnten.
Die ersten Tage wären nicht einmal so schlecht gewesen, hätte Gero nicht das Grauen im Nacken gesessen. Endlich der muffigen Werkstatt entronnen zu sein! Endlich wieder die Sonne auf der Haut zu spüren und frische Luft zu atmen! Das Wetter blieb heiß und trocken, abgesehen von seltenen Gewittern, die schnell vorbeizogen. Tagsüber lief er, so weit er kam, und sobald die Dämmerung hereinbrach, suchte er sich eine geschützte Stelle für die Nacht. Instinktiv hielt er sich immer nah am großen Fluss, der ihm wie eine Lebensader erschien, die ihn nähren und leiten konnte.
Nachts allerdings überfielen ihn böse Träume, in denen der tote Sarwürker ihm auf der Brust hockte und seinen Hals mit riesigen Pranken umklammert hielt, bis er schweißgebadet hochschoss. Manchmal entdeckte er dann sogar eine Urinpfütze unter sich, was ihn gleichermaßen erschreckte wie beschämte.
An Schlafen war danach kaum noch zu denken. Gero kauerte sich zu einer Kugel zusammen und lauschte ängstlich in die Nacht mit ihren tausenderlei Geräuschen. Dabei kam ihm immer wieder Theresa in den Sinn, ihr Lachen, ihre Stimme, die aufregenden Geschichten, die sie ihm erzählt hatte, als er noch klein gewesen war, und für kurze Zeit gab er sich der verlockenden Vorstellung hin, er könne morgen schon zu ihr zurück, an die Pforte von Kloster Rupertsberg pochen und dort herzliche Aufnahme finden.
Kaum aber zeigte sich das erste Licht, zerstoben alle Illusionen. Er hatte getötet, und wenn sie ihn zu fassen bekamen, war sein Leben verwirkt. Cillies Beteuerung, sie würde eine gute Ausrede auftischen, vermochte er keinen rechten Glauben zu schenken. Wie auch sollte ein schwaches Weib, das sich jahrelang unter der Knute des Sarwürkers gebeugt hatte, auf einmal so viel Verstand und Umsicht an den Tag legen? Wenn sie ihr enger auf den Leib rückten, würde Cillie ihn hinhängen, das stand für Gero fest. Deshalb galt für ihn als oberstes Gebot, sich möglichst weit von diesem Bingen zu entfernen, das ihm nichts als Qualen und Leid beschert hatte.
Sein größtes Problem war und blieb der Hunger. Zwar gab es reichlich Beeren und Pilze, und bisweilen fand sich sogar ein Stall, wo er ein paar Eier mitgehen lassen konnte, die er gierig ausschlürfte. Einmal klatschte ihm eine mitleidige Bäuerin dicken Gerstenbrei in einen Napf, den er anschließend so sauber ausleckte, als hätte man ihn mit einem Tuch sorgfältig blank gerieben. Was hätte er jetzt für Cillies versalzenen Schweinebauch gegeben! Sogar für ihre angebrannte Grütze wäre er stundenlang gelaufen. Stattdessen blieb ihm nur der Weg in die Weinberge, wo er sich mit unreifen Trauben derart vollstopfte, dass ihn anschließend heftiger Durchfall plagte.
Gero spürte, wie ihn langsam die Kräfte verließen. Hunger hielt mittlerweile sein ganzes Denken und Fühlen besetzt, ein dunkler Dämon, gegen den er kaum noch ankam. Seine halbherzigen Versuche, irgendwo nach Arbeit zu fragen, um ein Stück Brot zu bekommen, fruchteten kaum, und als Bettler erntete er von den Bauern allenfalls Spott und Hohn. Trotz seiner Schwäche musste er immer wieder alles
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