Die Prophetin vom Rhein
daransetzen, zum nächsten größeren Ort zu gelangen, wo sich vielleicht bessere Möglichkeiten auftaten.
Mit bleischweren Knochen schleppte er sich eines Tages vorwärts und spürte, wie vor allem sein linkes Bein nicht mehr recht mitmachen wollte. Inzwischen war die Morgenkühle verflogen, und wieder brannte die Sonne unbarmherzig auf ihn herunter. Immer öfter musste er stehen bleiben, um nach Atem zu ringen. Dabei fiel ihm auf einmal eine Burg auf dem Bergsporn vor ihm auf, die sich stolz und scheinbar unbezwingbar über dem Fluss erhob.
Sehnsüchtig schaute Gero hinauf. Dort oben mussten Ritter leben, die Essen und Trinken in Hülle und Fülle besaßen, während er vor Schwäche kaum noch weiterkonnte. Den Gedanken, als Bettler an ihr Tor zu pochen, verwarf er rasch wieder. Seine Beine waren zu kraftlos für einen Aufstieg in solch schwindelnde Höhe.
Er gelangte an einen Hafen, erstaunt darüber, wie viele Schiffe hier angelegt hatten, beladen mit Weinfässern und Holz, und er sah zu, wie die Fracht von kleineren Kähnen, die das gefürchtete Binger Loch passiert hatten, für die Weiterfahrt auf größere umgeladen wurde. Mit letzter Kraft schleppte er sich weiter in den Ort, wo ein kleiner Markt abgehalten wurde.
Allein der Geruch nach frischem Brot brachte ihn schier um den Verstand. Seine Nase führte ihn direkt zu den Körben einer jungen Frau, denen dieser köstliche Duft entströmte.
»Kann ich ein Stückchen haben?« Seine Zunge schien am Gaumen zu kleben. »Ich sterbe vor Hunger.«
Die Frau musterte ihn von oben bis unten, halb argwöhnisch, halb bedauernd, und an ihrem Gesichtsausdruck erkannte Gero, wie abgerissen er aussehen musste. Dann jedoch schien Mitleid die Oberhand zu gewinnen, sie langte hinter sich und steckte ihm einen Wecken zu.
»Aber sieh zu, dass du weiterkommst! Ich will nicht,
dass mir die Kundschaft durch Lumpenpack vergrault wird.«
Gero humpelte weiter, so schnell er konnte. Der erste Bissen war überwältigend, obwohl er schnell feststellen musste, dass sie ihm Altbackenes gegeben hatte. Er kaute und schluckte, und viel zu schnell war der Wecken in seinem ausgehöhlten Magen verschwunden. Jetzt war sein Hunger fordernder als zuvor. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Markt zurückzukehren und sich dort nach neuen Nahrungsquellen umzusehen. Auf einem Holztisch entdeckte er kleine Küchlein, so fetttriefend und honigglänzend, dass sie in der Sonne zu zerlaufen drohten, und die Gier, die ihn bei diesem Anblick erfasste, wurde übermächtig.
Er schaute nach links und rechts und entdeckte, dass er offenbar nicht der Einzige war, der Hunger hatte und nichts, womit er bezahlen konnte. Einige Gestalten wirkten kaum weniger abgerissen als er, und dass sie schon bedenklich nah gekommen waren, gefiel ihm ganz und gar nicht. Schnell musste er tun, was sein Überlebenswille von ihm forderte. Als die Frau hinter dem Tisch sich bückte, um etwas aufzuheben, griff er einfach zu, packte, was in seine beiden Hände passte, und rannte los, so schnell sein linkes Bein es erlaubte.
Ein paar glückliche Momente wähnte er sich in Sicherheit. Er hielt auf den Fluss zu, in der Hoffnung, vielleicht einen Kahn zu finden, der ihn mitnehmen würde. Dann jedoch hörte er hinter sich das Geräusch heranpreschender Schritte, und Gero erkannte am Klang, dass seine Verfolger mindestens zu dritt sein mussten.
Einer bekam ihn zu fassen, riss an seinem Gewand und brachte ihn so zum Stehen. Ein Zweiter stellte sich ihm in den Weg, ein zaundürres, jämmerliches Lumpenbündel
mit schwarzen Zähnen, so fürchterlich anzusehen, dass Gero vor Schreck aus der Hand fiel, was er vom Tisch zusammengerafft hatte. Jetzt kam der Dritte ins Spiel, kleiner und besser genährt als seine Kumpane, offenbar für die gröberen Arbeiten zuständig. Er senkte den Kopf und rammte ihn wie ein Stier in Geros Brustkorb. Dem blieb die Luft weg, und als er endlich halbwegs wieder schnaufen konnte, zuckte ein grelles weißes Licht vor seinen Augen: Ein harter Fußtritt hatte ihn genau zwischen den Beinen getroffen. Gero spürte, wie jeder Atemzug, den er tat, als lang gezogenes Stöhnen aus seinem Körper wich. Ein zweiter harter Tritt, diesmal gegen seine Schläfe, ließ das weiße Licht schwarz werden.
Seit sieben Tagen hütete die Magistra das Bett, konnte sich weder rühren noch regen, verweigerte die Nahrung und schwieg. Die Schwestern umstanden sie voller Sorge, ihre ohnehin zarte Konstitution könnte durch einen
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