Die Prophetin vom Rhein
neuerlichen Rückschlag noch weiter geschwächt werden. Clementia hatte vergebens ihre berühmte Hühnersuppe gekocht und Benigna umsonst Wermut, Schafgarbe und Löwenzahn im Mörser pulverisiert und mit Wein versetzt, um den Appetit anzuregen. Gemeinsam beteten die Nonnen vom Rupertsberg ein Ave-Maria nach dem anderen und flehten die himmlische Jungfrau um Beistand und Heilung an.
Erst als Theresa mit einem bunten Strauß aus Ringelblumen, Eibisch, Eisenhut und Odermenning an Hildegards Bett trat, schien die Magistra aus ihrer Agonie zu erwachen. Gold und Rot und Lila brachten den kleinen Raum zum Leuchten. Fast schien es, als wäre mit der blühenden jungen Frau auch das Leben zur Magistra zurückgekehrt.
Jetzt nahm die Kranke endlich ein paar Löffel Suppe zu sich, schluckte tapfer den bitteren Kräutertrank und bat anschließend, dass die Fenster weit geöffnet wurden.
»Ich kann den Herbst schon riechen«, sagte sie, nachdem sich ihre Lungen mit frischer Luft vollgesogen hatten. »Spätestens im Herbst sollten alle säumigen Angelegenheiten bestellt sein, damit man im Winter guten Gewissens die Türen schließen kann.«
Theresa nickte schweigend.
»Deshalb ist es hilfreich, Fehler einzugestehen, gerade wenn dies mit Scham verbunden ist.« Hildegards Stimme klang wieder kräftiger, und auch ihr Blick bekam seine gewohnte Schärfe zurück. »Du siehst müde aus, Theresa. Plagen dich böse Träume? Oder hast du andere Sorgen?«
Ein schnelles Kopfschütteln, dann starrte Theresa zu Boden.
Natürlich spürte die Magistra, dass die junge Frau etwas vor ihr verbarg, doch die Klärung dessen musste warten, bis sie endlich erledigt hatte, was ihr so schwer auf der Seele lag: der Besuch bei Erzbischof Arnold von Selenhofen.
Gleich am übernächsten Morgen machte sich Hildegard auf den Weg, allerdings nicht zu Pferde, weil sie sich dazu noch zu schwach fühlte, sondern in einem Karren, den Josch für sie lenkte. Sie hatte auf die Begleitung von Bruder Volmar verzichtet, obwohl der sich bereitwillig angeboten hatte, um seinen wenig rühmlichen Besuch in der Schenke zu Ingelheim vergessen zu machen. Leicht angetrunken hatte sie ihn dort vorgefunden, die Augen glasig, der Mund verschmiert von fettigen Blutwurstresten. Seine wortreichen Beteuerungen hatte sie mit einer Geste beiseitegewischt. Dergleichen ging nur seinen Beichtvater etwas an und zählte für sie, wenn überhaupt, zu den lässlichen Sünden. Allerdings hatte Hildegard sich vorgenommen,
bald ein ernstes Wort mit Clementia zu reden, die die Essensvorschriften des heiligen Benedikt manchmal ein wenig zu eng auslegte und dadurch bestimmte Gelüste erst weckte. Der Herbst war nicht mehr weit. Wenn es draußen kälter wurde, brauchten auch fromme Schwestern und Brüder reichhaltigere Kost.
Als der Karren das Stadttor erreicht hatte, wurde die Magistra richtig aufgeregt. Ihr Herz klopfte, die Hände waren eiskalt, und in den Ohren schrillte ein hohes Klingeln. St. Martin mit seinen Stiftsgebäuden, vom Rupertsberg nur durch die Nahe getrennt, erschien ihr auf einmal wie eine andere Welt. Der verstorbene Heinrich hatte diesen Stadtsitz geliebt und reichlich Silber in seine Renovierung fließen lassen. So konnte sein Nachfolger nun auch zu Bingen eine Residenz bewohnen, die dem hohen Rang des Mainzers Erzbischofs im Reich angemessen war, ein ganzer Komplex von Wirtschafts-, Keller- und Lagerräumen, die sich um das steinerne Saalgebäude im Zentrum gruppierten.
»Herrin«, sagte Josch, als sie gerade aussteigen wollte, »nichts läge mir ferner, als Euch mit lästigen Anliegen zu behelligen, wo Ihr doch gerade wieder gesund geworden seid. Aber morgens steigen schon die ersten Nebel auf, der Herbst ist nicht mehr fern, und wir bräuchten dringend …«
»… neue Fässer«, vervollständigte sie seinen Satz, und die Vorstellung eines Zweigklosters rückte wieder einmal in unerreichbare Ferne. »Ich weiß, Josch, und du behelligst mich ganz und gar nicht, sondern forderst lediglich, was du für deine Arbeit brauchst. Bete ein Vaterunser, während ich mit dem Erzbischof spreche. Vielleicht erfüllen sich ja unsere gemeinsamen Wünsche.«
Arnold ließ Hildegard eine ganze Weile in einem Vorraum
warten, was sie ihm übel nahm. Als Magistra des Rupertsberges war ihr Platz im Kloster, und es hätte ihm gut angestanden, das mit einem offiziellen Besuch zu respektieren und zu würdigen, wie Heinrich es einige Male getan hatte. Andererseits konnte der neue Erzbischof
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