Die Prophetin vom Rhein
nicht ahnen, welche Sorgen sie hierhertrieben. Deshalb ermahnte sie sich zu Freundlichkeit und Demut, ein Vorsatz, der allerdings schnell wieder verflog, als Arnold sich schließlich zeigte.
War es seine Haltung oder eine Geste? Noch bevor sie ein Wort miteinander gesprochen hatten, klaffte ein Graben zwischen ihnen. Mit diesem Mann warm zu werden, bedeutete für Hildegard eine Herausforderung, das wusste sie bereits nach dem ersten Augenblick. Dazu kam, dass er sie nicht allein empfing, sondern sich ausgerechnet Kanonikus Dudo zum Begleiter erkoren hatte, der ihr noch von seinem Besuch mit Heinrich auf dem Rupertsberg in äußerst unguter Erinnerung war.
Sie hätte nicht einmal sagen können, was genau sie an diesem Mann eigentlich störte. Eigentlich alles , dachte sie, erstaunt über das Maß an Abneigung, das er in ihr auslöste, angefangen von der wieselflinken Gestalt über die gequetschte Stimme bis hin zum beflissenen Gesichtsausdruck, der ihr Gänsehaut verursachte, weil er ihr wie eine verlogene Maske erschien.
Der Erzbischof bat sie beide an einen Tisch, offerierte Wein und Honigkuchen, doch die Magistra lehnte mit dem Hinweis auf ihre Rekonvaleszenz ab.
Dann trat eine lange Pause ein.
»Ich muss Euch um eine Unterredung unter vier Augen ersuchen«, brachte Hildegard schließlich unter heftigem Räuspern hervor. »Es geht um Angelegenheiten des Klosters, die nicht für die Ohren Dritter bestimmt sind.«
Dudos Fuchsgesicht hatte plötzlich einen noch wacheren Ausdruck.
Der Erzbischof dagegen schaute reichlich unbehaglich drein. »Kanonikus Dudo genießt mein unbedingtes Vertrauen …«
»Bitte, Exzellenz, tut mir den Gefallen!«
»Also gut. Wenn es unbedingt nötig scheint.« Auf sein Nicken hin erhob Dudo sich zögerlich, sichtlich ganz und gar nicht mit dieser Maßnahme einverstanden, und verließ den Raum.
Der Stein auf Hildegards Brust schien an Gewicht zuzulegen. Wieder und wieder hatte sie sich die passenden Worte zurechtgelegt, doch plötzlich schienen sie ihr alle entfallen zu sein. Sie atmete tief aus. Die Wahrheit!, ermahnte sie sich selbst. Einzig und allein die Wahrheit!
»Vor zwei Jahren suchten in einer kalten Februarnacht eine Gräfin und ihre beiden halbwüchsigen Kinder Asyl auf dem Rupertsberg«, begann sie schließlich. »Wir gaben ihnen Brot und ein Dach für die Nacht, doch eine Aufnahme in unseren Konvent konnten wir ihnen leider nicht anbieten.«
Erzbischof Arnold schien zu nicken. Aus Zustimmung oder weil er die Geschichte bereits aus anderer Quelle kannte?
Hildegard redete weiter, obwohl es von Wort zu Wort schwieriger wurde: »Die Mutter war schwanger und offenbar tief verzweifelt. Nur so lässt es sich vermutlich erklären, dass sie sich heimlich Zugang zum Sadebaum in unserem Klostergarten verschaffte und einen Sud von seinen Spitzen einnahm. Damit tötete sie die Frucht in ihrem Leib und schließlich auch sich selbst …«
»Und ihr seid nicht dagegen eingeschritten? Wie konntet ihr!«, unterbrach Arnold sie.
»Es gab keine Rettung. Wir haben nichts unversucht gelassen - leider vergeblich.«
Seine gelblichen Augen starrten sie misstrauisch an. Plagte ihn ein hartnäckiges Leberleiden? War es womöglich das, was ihn so mürrisch und misstrauisch machte?
»Was habt ihr dann unternommen?«, sagte er.
»Ihnen ein Grab gegeben, der Mutter und ihrem toten Kind.«
»Doch nicht etwa auf dem Klosterfriedhof?«, rief er mit entsetzter Miene.
Wie leicht wäre es jetzt gewesen, ihn mit einer Lüge abzuspeisen, die alles viel einfacher für sie gemacht hätte! Doch Hildegard entschied sich für den steinigeren Weg.
»Ja und nein«, sagte sie. »Der Kopf ruht auf dem Grund unseres Friedhofs, der Rest jenseits der Grenze in ungeweihter Erde.«
Erzbischof Arnold leerte seinen Pokal in einem Zug.
»Wer weiß alles davon?«, fragte er.
»Die Mitschwestern. Bruder Volmar. Josch, einer unserer Winzer, dem ich zutiefst vertraue. Und leider auch Magota von Herrenberg, die ich des Klosters verweisen musste, weil sie sich von Jesus Christus losgesagt hat. Schon seit Längerem verlangt sie ihre Mitgift zurück. Doch über die verfügt nach wie vor Abt Kuno wie über alles, was wir dem Kloster Disibodenberg damals bei unserem Eintritt vermacht haben.«
Der Erzbischof runzelte die dünnen Brauen, die so farblos waren wie sein ganzes Gesicht, wäre da nicht die strenge Falte zwischen den Augen als Beweis für seine allzu rasche Bereitschaft zum Zornigwerden gewesen.
»Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher