Die Prophetin vom Rhein
den kalten Boden unter ihren Füßen, den engen, klammen Raum, glaubte wieder den Klang der Instrumente zu hören, die Lichter der vielen Kerzen von damals zu sehen - als plötzlich die Magistra in der Tür stand.
»Zieh das sofort aus!« Niemals hatte ihre Stimme so schrill geklungen.
»Weshalb sollte ich? Es war das Kleid meiner Mutter. Und jetzt gehört es mir.«
»Eine Braut Christi trägt nicht solche Kleider«, sagte Hildegard. »Ich dachte, das sei dein Weg.«
Etwas Raues kratzte in Theresas Kehle. Doch da gab es auch den wütenden Eigensinn, der sich in ihr breitmachte.
»Nein, ist es nicht. Ich werde den Ewigen Schleier nicht nehmen«, hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen. »Nicht jetzt - und auch nicht später. Ich kann es nicht. Und will es auch nicht.«
Die Magistra schien wie erstarrt. »Das hast du dir alles gut überlegt?«, brachte sie mühsam hervor. »In der langen Zeit, die du hier bei uns verbracht hast.«
»Ja«, sagte Theresa. »Und bitte verzeih mir! Doch ich muss anders leben. Ich will die Liebe kennenlernen. Das weiß ich jetzt.«
»Die Liebe!« Es klang wie ein Aufschrei. »Was weißt du Kind schon davon? Du hast keine Eltern mehr und auch kein Zuhause. Die Welt da draußen ist hart für eine wurzellose junge Frau, das wirst du bald zu spüren bekommen. Da gibt es Liebe, schlimmer als der Tod. Besinn dich, Theresa! Noch ist es nicht zu spät zur Umkehr.«
Sogar Angst wollte sie ihr einjagen! Mit allen Mitteln versuchte die Magistra, sie zu halten. Wie schmerzhaft musste ihre Entscheidung für sie sein. Und doch hatte sie sie niemals verletzen wollen.
»Mutter, ich …« Theresa machte einen Schritt auf Hildegard zu, um zu erklären, sie zu beschwichtigen, doch die Magistra streckte voller Abwehr die Arme aus, als könne sie das lockende Rot nicht näher bei sich ertragen.
»Du gehst sofort!« Hildegards Gedanken überschlugen sich. Man würde ihr helfen müssen, doch das brauchte sie nicht gleich zu wissen. »Nach der Vesper hast du Kloster Rupertsberg verlassen. Gott schütze dich, Theresa! Du wirst seinen gütigen Beistand brauchen können.«
Erschrocken starrte Theresa sie an, aber sie entdeckte nicht eine Träne, nicht einmal den Ausdruck des Kummers in Hildegards Zügen. Das Gesicht war weiß und glatt wie polierter Stein.
Das Haus in der Enkersgasse war dunkel. Nur im obersten Stockwerk entdeckte Theresa Kerzenschein.
Sie zögerte, dann klopfte sie an die Tür. Eine ganze Weile geschah nichts, schließlich öffnete Willem, ein kleines Öllicht in der Hand.
»Du?« Fassungslos starrte er sie an. »Und was trägst du für ein Bündel in der Hand?«
»Meine Sachen«, sagte Theresa. »Ich hab das Kloster verlassen. Lässt du mich hinein?«
»Jetzt?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ganz und gar unmöglich, Theresa! Du hättest nicht herkommen sollen. Geh zurück zum Kloster! Dort bist du am besten aufgehoben.«
»Niemals!« Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte. »Wie kannst du das sagen? Es gibt kein Zurück mehr, Willem. Ich werde keine Nonne. Mein Entschluss steht fest.«
Was war mit ihm? Anstatt sie freudig zu begrüßen, führte er sich auf, als sei sie eine Bettlerin. Hatte er den Kuss und all die Sehnsucht der langen Jahre schon vergessen? Die Enttäuschung, die sie in sich aufsteigen fühlte, drohte schier übermächtig zu werden.
»Warum stellst du dich so an?«, fuhr sie lauter fort. »Wenn es wegen der Leute ist …«
»Du kannst nicht bei mir bleiben, Theresa.« Willems Gesicht war schmerzverzerrt. »Selbst, wenn ich wollte - es geht nicht. Bitte, nimm es so hin, wie ich es dir sage!«
»Aber weshalb denn nicht?«
»Frag nicht! Ich kann dir keine Antwort darauf geben.« Seine Schultern waren eingesunken wie die eines alten Mannes. »Jedenfalls keine, die dich befriedigen würde. Geh nun zurück und bitte die Magistra …«
Sie funkelte ihn schweigend an. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und lief davon.
Der Mond war schon untergegangen, als Theresa erschöpft an eine andere Haustür klopfte. Stundenlang war sie in den Gassen Bingens umhergeirrt, doch jetzt war ihre Kraft am
Ende, und sie brauchte dringend ein Obdach, weil sie nicht mehr weiterwusste. Tränen rannen über ihre Wangen, die Kehle war wund vom vielen Schluchzen und Weinen.
Nach wenigen Augenblicken stand eine blonde Frau vor ihr, einen kleinen, rundlichen Jungen wie einen Mehlsack halb über der Schulter hängend, was ihm offenbar das Einschlafen
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