Die Prophetin vom Rhein
das provisorische Lager. »Das wird er mir schon noch verraten, wenn er wieder zu Kräften gekommen ist«, sagte er. »Jedenfalls mag ich sein freches Gesicht. Es wird einmal stolze Züge haben, ist der Junge erst ausgewachsen, das lässt sich jetzt schon erkennen. Außerdem erinnert er mich an Dietram, unseren jüngsten Bruder, der gerade mal siebzehn wurde, bevor er an einem verrosteten Nagel jämmerlich verrecken musste. Dietram hat mich immer zum Lachen gebracht. Vielleicht besitzt unser kleiner Strauchdieb ja ähnliche Talente.«
Fürsorglich zog seine Hand die Decke höher. Gero stieß ein kurzes Brummen aus, das nach Zustimmung klang.
»Ich denke, mein Silber ist gut investiert.«
Wo war das rote Kleid?
Irgendwo musste die Magistra es ja versteckt haben, wenn sie es nicht schon längst aus Abscheu und Ekel vernichtet hatte. Theresa fühlte sich äußerst unwohl, weil sie heimlich bei Hildegard eingedrungen war. Aber sollte sie die günstige Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen?
Dass sie Willem wiedersehen musste, stand für sie fest. Und beim nächsten Mal sollte er sie in aller Pracht und Schönheit zu sehen bekommen, nicht mehr im fleckig gefärbten, blassgrünen Rainfarnkleid.
Mit fliegenden Händen hatte sie die Truhe in Hildegards kargem Schlafraum durchsucht, stets mit dem Ohr in Richtung Tür, damit niemand sie ertappte. Doch da war nichts gewesen, bis auf die zwei einfachen Gewänder zum Wechseln, genauso wie sie die regula Benedicti vorschrieb.
Ratlos erhob sich Theresa. Wo noch konnte sie nachsehen?
Sie hatte gehört, dass das ganze Kloster unterkellert sei. Doch die Schlüssel hingen am Bund von Schwester Clementia, die argwöhnischer als ein Höllenhund darüber wachte. Sie ihr unbemerkt zu stibitzen, erschien Theresa ein Ding der Unmöglichkeit.
Nein, Adas rotes Kleid musste anderswo sein, falls es noch existierte. Sie brauchte nur fest genug nachzudenken, um es herauszufinden. Aufregung hatte sich ihrer bemächtigt, weil sie trotz ihres bisherigen Misserfolgs das Gefühl nicht loswurde, dem Ziel schon ganz nah zu sein. Um ruhiger
zu werden, lief Theresa in die Kapelle. Der helle Raum mit seinen bunten Wandbildern aus dem Leben des heiligen Rupert und den schlichten Säulen war für sie von Anbeginn an ein Ort der Zuflucht gewesen. Irgendwann würde der stecken gebliebene Kirchenbau ihn ablösen, eines Tages, wenn endlich das Geld der Nonnen vom Disibodenberg floss. Doch bis dahin war und blieb die Kapelle das Zentrum der Klosteranlage.
Die Tür zur provisorisch eingerichteten Sakristei stand ausnahmsweise offen. Theresa ging langsam hinein. Hier war es dämmrig und kühl, als sei der Atem des Sommers ausgeschlossen. Im hinteren Teil entdeckte sie an der Wand zwei große Truhen. In der ersten fand sie priesterliche Messgewänder, die sie mit ehrfürchtiger Scheu glatt strich, bevor sie den Deckel wieder schloss. In der zweiten strahlte ihr jungfräulich weiße Seide entgegen, und es genügte eine kurze Berührung, um erneut die Erinnerung an jenen Tag in Bingen wieder in ihr lebendig werden zu lassen, als sie das kostbare Gewebe zum ersten Mal berührt hatte.
»Seidenschrei«, so hatte Willem jenes unverwechselbare Knirschen genannt - was würde sie jetzt nicht alles dafür geben, um endlich wieder bei ihm zu sein!
Behutsam tasteten ihre Finger sich weiter, und schließlich entdeckten sie unter all dem Weiß etwas Rotes. Jetzt begann Theresa regelrecht zu wühlen, bis sie fündig wurde. Hier also war Adas Prunkgewand versteckt! Als sie daran zog, glitt es über den Truhenrand wie ein glühender Sonnenuntergang.
Sie holte das Kleid ganz heraus, schüttelte es, um die Falten zu glätten, die es vom langen Liegen bekommen hatte, und hielt es vor sich. Plötzlich wurde die Versuchung übermächtig. Sie schlüpfte aus ihrer Novizinnenkutte und stieg hinein. In ihrer Vorstellung war die Mutter ein ganzes
Stück größer als sie gewesen, doch entweder täuschte sie die Erinnerung, oder sie war noch einmal gewachsen. Das Kleid saß wie angegossen, und der zarte Lavendelduft, den es verströmte, machte es in ihren Augen noch kostbarer. Aufgeregt ging Theresa hin und her, drehte sich, spürte das Gewicht des Stoffes auf der bloßen Haut.
Sie konnte nicht anders, sie musste endlich wieder die Tanzschritte probieren, die Ada ihr beigebracht hatte, als sie kaum zwölf gewesen war, und trotz der langen Zeit, die seitdem verstrichen war, hatte sie keinen einzigen davon verlernt. Sie vergaß
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