Die Prophetin vom Rhein
bist!«, bat Schwester Hedwig. »Lass sie deine Größe sehen, deinen Stolz atmen, deine Weitsicht spüren. Dein Glanz macht uns alle strahlender. Gott unter der Prophetin vom Rhein zu preisen und zu dienen - was könnte erstrebenswerter sein?«
Sie ließ das sinnlose Kneten endlich bleiben und faltete stattdessen ihre tintenbeschmierten Hände.
»Kuno wird irgendwann klein beigeben müssen, wenn er dich so erlebt, das weiß ich«, fuhr sie fort. »Und auch Erzbischof Arnold kann sich dir und deiner Berufung nicht auf Dauer verschließen. Nacht für Nacht bitte ich den Allmächtigen darum. Dass er ihn sehend mache und sein Herz der grenzenlosen Liebe öffne, die wir von dir empfangen dürfen. Denn was wären wir schon ohne sie?«
Hedwigs bewegende Worte klangen in Hildegards Herzen fort, später, bei der Vesper, als sie gemeinsam das Lob der Gottesmutter sangen und die Magistra Gelegenheit hatte, ihren Blick über all die verschiedenen Gesichter wandern zu lassen. Mehr als vierzig Frauen waren es inzwischen, die auf dem Rupertsberg lebten, und ständig kamen neue hinzu, weil der Ruf des Klosters im ganzen Reich widerhallte. Einige hatten bereits die Mühsal des Neuanfangs mit ihr geteilt, die meisten waren erst eingetreten, als die starken neuen Mauern schon gestanden hatten.
Aber allen war sie schuldig, den Kampf um die Unabhängigkeit des Konvents mit Geist und Herz so lange fortzusetzen, bis sie gesiegt hatten.
Hedwig hatte recht. Die Wunde, die Richardis’ Verlust ihr geschlagen hatte, war nicht unbemerkt geblieben. Auch nicht dass Theresas Verrat, wie sie es empfand, die hauchdünne Heilungshaut, die sich gerade darüber hatte schließen wollen, grausam zerstört hatte. Aber sie durfte nichts von außen erwarten, sondern musste lernen, mit ihren Schmerzen und inneren Nöten allein fertigzuwerden, auch wenn sie noch nicht wusste, ob es ihr jemals gelingen würde.
»Nichts ist von Dauer, so lautet der Fluch, mit dem die Menschen zeitlebens geschlagen sind. Zu leben bedeutet auch zu kämpfen.« Beides hatte ihr Bruder Hugo vor langer Zeit zu ihr gesagt und hinzugefügt: »Ich kenne keine, die zu Letzterem besser ausgestattet wäre als du, Hildegard, auch wenn man es auf den ersten Blick nicht vermuten würde.«
Eine warme Woge der Zuneigung durchflutete sie, während sie an ihn dachte. Ja, sie war diejenige, die das Lebendige Licht empfing. Ihm allein wollte sie dienen, ihm zuliebe klaglos Unbill, Krankheit und jeglichen Widerstand ertragen, um sein hohes Lied zu singen.
Anstatt sich schlafen zu legen, bis die Prim erneut die Anbetung Gottes verlangen würde, schritt Hildegard rastlos in ihrer kleinen Schlafkammer auf und ab. Sie hatte eine Kerze angezündet, um die Dunkelheit zu vertreiben. Die Bewegung half ihr, trotz der klammen Kälte, die heuer reichlich früh tief in die Mauern gekrochen war, halbwegs warm zu bleiben, was wiederum den Gedanken neuen Auftrieb gab.
Sorgfältig wog sie alle Argumente gegeneinander ab.
Der König befand sich seit Wochen auf Heerfahrt in Italien, um die aufständischen oberitalienischen Städte zu unterwerfen und sich in Rom von Papst Hadrian zum Kaiser krönen zu lassen. Doch jenseits der Alpen schienen seine Ritter auf unerwartete Schwierigkeiten zu stoßen, allein schon, weil das Heer, das Friedrich gegen die Lombarden aufgeboten hatte, alles andere als groß war. Denn seinem Aufruf waren nicht genügend Fürsten gefolgt, lautete die wichtige Nachricht, die Hugo ihr aus Mainz hatte zukommen lassen. Der Zeitpunkt der Rückkehr des Heeres schien also ungewiss. Als erster der Erzbischöfe und alter Vertrauter verwaltete Arnold von Selenhofen einstweilen die Geschicke des Reiches. Er würde ihrem Anliegen unter diesen Umständen gewiss noch immer kein Gehör schenken.
Keiner von ihnen würde ihr in den nächsten Monaten helfen können, wenn sie nicht sogar noch länger darauf warten musste. Also galt es, Kuno direkt und ohne lange Umschweife anzugehen.
Vielleicht war dafür sogar die beste Gelegenheit seit Langem.
Aus der Kerze leckte plötzlich eine zweite Flamme, die auf halber Höhe ein Loch durch das Wachs fraß, für Hildegard ein Zeichen der Zuversicht. Nicht einmal brennender Schmerz konnte sie brechen. Denn was sie vorhatte, tat sie ja nicht für sich, sondern im Namen des Himmels für alle.
In ihrem Kopf begannen sich bereits die Worte zu formen, die sie Bruder Volmar diktieren würde, sobald es hell genug dafür war. Ein Brief der besonderen Art, den der
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