Die Prophetin vom Rhein
verließ den Raum. Hildegard wollte ihm schon hinterher, als Hedwigs ruhige Stimme sie zum Innehalten brachte.
»Nichts läge mir ferner, Mutter«, sagte sie, abermals im Bücken, »als mir anzumaßen, dein Tun zu beanstanden. Zudem du mir ja mehrmals deutlich gemacht hast, dass ich nicht nur Gott, sondern auch meiner Äbtissin Gehorsam schulde.«
»Ich mag diese Anrede nicht, und du weißt, weshalb.« Hildegard hatte sich zu ihr umgedreht. »Bis der Disibodenberg uns freigibt, gebührt der Titel Kuno, der noch immer wie ein Löwe um jeden Weinstock, jede Ackerkrume streitet, die eigentlich uns zustehen. Nicht einmal in seinen
Briefen wird er müde, mich darauf hinzuweisen. Leider fehle ihm die Zeit, um uns abermals hier auf dem Rupertsberg zu visitieren, wie es ihm kraft seines Amtes gebühre. Zudem stehe es um seine Gesundheit nicht zum Besten, was ihn am Reisen hindere. Aber in unser Gebet sollten wir ihn und die Brüder trotzdem weiterhin einschließen. Ein Befehl, getarnt als höfliche Bitte - wie leid ich das bin!«
Ihr Tonfall war bitter geworden, dann jedoch fasste sie sich wieder.
Aus Hedwigs Kinn sprossen vereinzelt dunkle Haare, und ihr Mund wirkte eingefallen. Im letzten Winter war der Emmer so knapp geworden, dass sie Brot aus Nussmehl hatten backen müssen, das viele Schalenreste enthielt und nicht nur Hedwig ein paar Zähne gekostet hatte. Es stimmte Hildegard wehmütig, die untrüglichen Zeichen des Alters an der Gefährtin aus jungen Tagen entdecken zu müssen. Wehte der Hauch der Vergänglichkeit sie heute stärker an als sonst?
»Falls wir beide das überhaupt noch erleben, dass der Disiboden uns freigibt«, setzte sie eine Spur versöhnlicher hinzu. »Denn unser neuer Erzbischof, wiewohl ebenfalls kein Jüngling mehr, scheint in diesem Punkt keine Eile zu kennen. Seine Vorstellungen, wer einem Kloster vorstehen darf, sind umso klarer. Dafür haben übel meinende Stimmen gesorgt, die mich zwangen, ihm Einzelheiten über die traurigen Todesumstände der Reichsgräfin von Ortenburg zu offenbaren, bevor sie es tun konnten.«
»Du sprichst von Magotas Drohung?«
Hildegard nickte.
»Eine Schlange, die von Anfang an mit gespaltener Zunge gesprochen hat. Vergiss sie! Die Schwestern haben dich nach Juttas Tod zur Vorsteherin gewählt. Einstimmig.
Und wäre heute wieder Wahl, wir alle würden erneut für dich votieren, denn wir lieben und verehren dich.«
»Was willst du, Hedwig?«
»Dich schützen, geliebte Mutter. Und davor bewahren, den gleichen Fehler noch einmal zu begehen. Du fühlst dich zu Recht enttäuscht. Ich weiß, du hast Theresa gerngehabt und dir schon ausgemalt, welche Pflichten sie einmal bei uns erfüllen könnte. Und jetzt, wo sie noch immer ganz in unserer Nähe lebt, nur durch die Nahe getrennt …«
»Ich will diesen Namen nicht mehr hören!«
»Sie hat dich gleich an Richardis erinnert, nicht wahr? Deshalb hast du auch dafür gesorgt, dass sie jetzt nicht darben muss, trotz deiner übergroßen Enttäuschung.«
»Schweig!« Noch immer war Theresas Fehlen ein stechender Schmerz, ein Lanzenstoß in die Brust, der Hildegard manchmal in die Knie zwang.
Doch Hedwig redete unbeirrt weiter: »Jeden Tag mehr hat sie dich an sie erinnert, je länger sie bei uns war. Ihr Gang, das Haar, ihre Augen. Sogar entfernt verwandt ist sie ja mit ihr. Und doch war sie nicht Richardis. Selbst wenn sie für immer im Kloster geblieben wäre, sie hätte dir Richardis niemals ersetzen können.« Hedwigs unruhige Hände hatten damit begonnen, Wachskügelchen zu kneten.
»Glaubst du, das alles wüsste ich nicht?« Hildegards Augen waren dunkel geworden. »Es gab nur eine Richardis, eine einzige! Ihre Seele ist jetzt bei Gott. Das allein tröstet mich.« Sie schluckte. »Manchmal. Ein wenig.«
»Es hat eine ganze Weile gedauert, bis die Schwestern dir wieder ganz vertraut haben, weißt du das eigentlich? Der Platz in deinem Herzen, den du Richardis eingeräumt hattest, war zu groß, zu unbedingt, auch noch, als sie nicht mehr bei uns gelebt hat. Da mussten Neid und Missgunst
geradezu wuchern, so sind die Menschen nun mal, auch wenn sie hinter hohen Mauern leben und vor dem Altar feierlich Keuschheit, Armut und Gehorsam gelobt haben. Sollten die Mitschwestern nun das Gefühl bekommen, dass Theresas Weggang ein neues tiefes Loch gerissen hat, so …«
»Was willst du?«, herrschte Hildegard sie an. »Du, die du dich immer auf die Wahrheit berufst: Spuck sie schon aus!«
»Zeig ihnen, wer du
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