Die Prophetin vom Rhein
weitgehend verzichtete, sondern schluckte, was brockenweise durch ihren Schlund passte. Am liebsten hätte sie sogar beidhändig zugegriffen, um endlich in den Genuss zu kommen, wieder einmal vollkommen satt zu werden.
Füllte sich dann der Magen nach und nach, wurde sie langsamer und war endlich in der Lage, einzelne Bissen zu genießen. Manchmal fiel ihr erst dann auf, was sie gerade aß, und je schwerer und fetter es war, mit desto größerer Begeisterung verschwand es in ihrem Mund.
Dann endlich hallte das Schweigen Gottes nicht länger in ihren Ohren, und sie konnte für kurze Zeit vergessen, dass sie eine Verlorene war.
Freilich musste Magota anschließend bitter bezahlen, denn ihr Magen, solcher Kost seit Langem entwöhnt, rebellierte oft, entlud sich in heftigen Kontraktionen, oder es
kam zu schmerzhaften Durchfällen, die lange nicht abklingen wollten. Trotzdem machte sie weiter, musste so weitermachen, um das Leben einer Gläubigen überhaupt ertragen zu können.
Auf ihren jüngsten Ausflug ins Reich der Sinne hatte sie besonders lange warten müssen. Doch jetzt saß sie im »Roten Salm« vor einer tiefen Schüssel mit Knöcherlsülze, aus der ein gebrühter Schweinekopf ragte, an dem sie voller Gier riss. Endlich wieder fettes, mürbes Fleisch im Mund zu haben, war so überwältigend, dass ihr Tränen der Erleichterung in die Augen schossen. Eine große, tiefe Ruhe senkte sich über sie, und sie wusste, sie würde diesen Platz erst wieder verlassen können, wenn auch die letzte Faser in ihrem Schlund verschwunden war.
Es gab nur noch Schlingen und Schlecken, und gewohnheitsmäßig sah sie dabei kaum auf, wie Hunde es tun, die ihren Napf in einem Satz leeren. Weil ihr warm geworden war, hatte sie den engen Kopfputz ein Stück nach hinten geschoben, und am liebsten hätte sie ihn ganz heruntergerissen, doch die Angst, ihn dabei womöglich mit dem Fett an ihren Fingern zu beschmutzen, hielt sie davon ab.
Plötzlich drang eine Stimme an ihr Ohr, die sie am liebsten nie mehr gehört hätte. Alarmiert schaute sie auf.
Nur zwei Tische weiter saß Kanonikus Dudo, tief ins Gespräch mit einem Mann vertieft, der ihr ebenfalls nur allzu bekannt war: Abt Kuno vom Disibodenberg!
Einem Stein, der in stilles Wasser fällt und nach allen Seiten Wellenringe aussendet, glich die ungeheure Erregung, die Magota erfasste. Sie duckte sich, zog die Schultern ein, machte sich klein.
Die beiden schienen ihre Umgebung vergessen zu haben, jedenfalls wurden ihre Stimmen immer erregter.
»Wie stellt Ihr Euch das vor«, hörte sie den Abt rufen.
»Wo solch ein Brand doch immer auch Menschenleben kosten kann!«
»Er soll ja lediglich Schrecken einjagen, mehr nicht. Eine Scheune, ein kleines Eckchen, das würde bereits genügen.«
»Aus scheinbar harmlosem Schwelbrand sind oft schon die furchtbarsten Feuersbrünste erwachsen.«
»Steht nicht schon in der Bibel über die reinigende Kraft der Flammen geschrieben?«, konterte Dudo. »Sie läutert die Seelen, verbrennt alles Übel. Aus diesem Grund schickt die heilige Kirche schließlich ja auch verstockte Ketzer ins Feuer.«
Magota wünschte sich von ganzem Herzen, unsichtbar zu werden. Doch die beiden waren ohnehin zu sehr mit ihrem Disput beschäftigt, um sie wahrzunehmen.
»Was würde der Erzbischof dazu sagen, der gerade im fernen Italien weilt?«
Dudo lächelte dünn. »Arnold von Selenhofen vertraut mir«, sagte er. »Und dazu hat er jeden Grund.«
Abt Kuno schien noch immer nicht überzeugt. »Sich auf diese Weise die Hände schmutzig zu machen …«
Dudo ließ ihn nicht ausreden. »Für solche Aufgaben gibt es Handlanger, deren Namen Ihr nicht einmal zu wissen braucht!«, rief er. »Bedenkt doch, welch Vorteile der rote Hahn Euch bringen würde!« Der Kanonikus beugte sich über den Tisch und musterte den Abt eindringlich. »Ihr seid und bleibt Hüter Eurer frommen Schar. Sie dagegen wäre nicht in der Lage, das Unheil abzuwenden - welch Armutszeugnis für die berühmte Prophetin vom Rhein! Als Retter in der Not könntet Ihr den verwirrten Weibern erscheinen. Und keine Einzige würde mehr wagen, diesen Unsinn von einer Mitgift, die zurückgezahlt werden muss, noch einmal in den Mund zu nehmen.«
Ein Vorschlag, der den Abt umzustimmen schien, denn
er griff nach seinem Becher und leerte ihn beherzt. Als er ihn wieder absetzte, war die missmutige Falte zwischen seinen Brauen verschwunden.
Magota starrte mit tiefem Bedauern auf den noch kaum berührten Schweinekopf.
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