Die Prophetin vom Rhein
fern uns guten Christen fleischliches Begehren ist. All diese Begierden, die den Tod in sich tragen, sind nichts als ein Blendwerk Satans, der
freilich nicht müde wird, jeden von uns immer wieder auf die Probe zu stellen.«
Das war eindeutig nicht nur an sie gerichtet, sondern galt auch Willem, der ihm gegenübersaß und rasch das Gesicht abwandte.
»Der Weg zur Vollkommenheit ist lang und dornig. Nur wer ihn mutig und entschlossen geht, wird die Dunkelheit für immer von sich abstreifen und das Licht erringen. So und nicht anders lautet die frohe Botschaft der Kirche der Liebe.«
Wenn er doch nicht immer reden würde, als hielte er gerade eine Predigt! Dabei war es gerade sein Predigen gewesen, das sie anfangs so sehr für Adrian eingenommen hatte. Stundenlang hätte sie ihm zuhören können und die Worte von seinen Lippen saugen, die sie ganz trunken machten. Doch damit war es vorbei. Inzwischen musste sie sich zusammennehmen, um nicht vor Ungeduld mit den Zähnen zu knirschen, wenn er wieder zu einer seiner ellenlangen Ausführungen ansetzte, denn das tägliche Leben im Haus eines Vollkommenen war alles andere als einfach.
Zu fasten und zu beten, machte Magota nichts aus, zumindest war sie davon überzeugt gewesen, bis sie das Kloster verlassen musste. Auf dem Rupertsberg waren die Stunden der göttlichen Anbetung regelmäßig und zudem zeitlich begrenzt gewesen. Außerdem war Hildegard keine Anhängerin übermäßiger Kasteiung und hatte stets dafür gesorgt, dass der Speiseplan vielseitig und abwechslungsreich blieb, dem Wechsel der Jahreszeiten ebenso geschuldet wie der Schwere der Arbeit, die die Schwestern zu verrichten hatten.
Nichts davon fand sie wieder in der Kirche der Liebe, wo das Schweigen Gottes ihr täglich lauter in den Ohren
dröhnte, bis sie es kaum noch ertragen konnte. Wäre es nach Adrian van Gent gegangen, er hätte seinen Gläubigen die Aufnahme von Speise und Trank am liebsten wohl gänzlich untersagt, diente beides doch lediglich dazu, den Leib zu stärken, dieses elende Gefäß so vieler verwerflicher Sünden.
Wer satt ist, wird auch faul. Wer faul ist, kommt auf schlechte Gedanken. Schlechte Gedanken aber führen weg vom Licht, zu dem doch alle streben sollen.
Wie oft hatte sie das inzwischen schon gehört!
Hunger quälte Magota trotzdem, maßloser, unbeschreiblicher Hunger, und je mehr sie sich bemühte, die strengen Speisegebote der Kirche der Liebe einzuhalten, desto wütender überfiel er sie. Ins Haus durfte offiziell nichts gebracht werden, was gegen diese Gebote verstieß, weder Milch noch Eier, weder Butter noch Schmalz, ganz zu schweigen von Fleisch, das ganz oben auf der Verbotsliste rangierte, weil in einem getöteten Tier womöglich die Seele eines verstorbenen Gläubigen gefangen sein könnte.
Wie genau Letzteres vonstattengehen sollte, hatte sie allerdings bis heute nicht begriffen, denn Adrian van Gent wurde merkwürdig unpräzise in seinen Ausführungen, fragte jemand näher danach.
Welcher wahre Gläubige hatte überhaupt solch widernatürliche Gelüste? Magota hatte sie. In geradezu erschreckendem Ausmaß, das wusste sie inzwischen. Natürlich wäre es ihr ein Leichtes gewesen, ihnen nachzugeben, wenn Onkel und Neffe auf Handels- beziehungsweise Missionsreise waren. Doch Adrians Schatten war zu mächtig, um den Flamen in seinen eigenen vier Wänden zu hintergehen.
Glücklicherweise hatte sie Schlupflöcher gefunden, winzige Inseln der Seligkeit, die ihr halfen, das ständige
Darben halbwegs zu ertragen. Natürlich achtete sie peinlich darauf, sich dabei nicht erwischen zu lassen.
Nach und nach geriet ihr System immer perfekter. Da waren die kleinen Summen Geldes, die sie hinterzog, wenn sie die Einkäufe machte, hier einen Kreuzer, dort zwei, stets auf der Hut, denn Adrian war misstrauisch und rechnete alles nach. Außerdem suchte sie für ihre Esslust billige Orte aus, um auch ja genug zu bekommen. Der Hafen bot sich dafür besonders an, wo schwere körperliche Arbeit anfiel und Männer auf schnelle, preiswerte Nahrung angewiesen waren. Er wurde zu Magotas bevorzugtem Revier.
Ein Gebände um den Kopf geschlungen, um ehrbar zu wirken, fiel sie in die einfachsten Schenken ein. Ließ sich an Fleisch auf den Teller häufen, was die Küche zu bieten hatte, denn Fisch, den die guten Christen als einzige tierische Nahrung zu sich nehmen durften, verabscheute sie zutiefst. Dann begann sie zu schlingen. Anfangs war ihre Gier stets so groß, dass sie aufs Kauen
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