Die Prophetin vom Rhein
einer unsichtbaren Last. Jetzt aber war er für sie eingestanden und hatte gegen eine Überzahl gekämpft, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Ohne ihn wäre sie verloren gewesen. Doch jetzt war sie in Sicherheit. Alles in ihr wurde hell und klar. Dieser Mann war ihr Schicksal, das wusste sie, entschiedener als jemals zuvor.
»Komm, Theresa!« Er bückte sich nach der Deichsel. »Zu solch später Stunde sollte keine ehrbare Frau mehr allein unterwegs sein. Ich bring dich jetzt nach Hause. Du wirst erst einmal Ruhe brauchen.«
KLOSTER RUPERTSBERG - FRÜHLING 1156
Es ging der Magistra nicht gut, schon seit einigen Wochen. Da war diese wachsende innere Unruhe, gepaart mit zunehmender Schlaflosigkeit und ständiger Gereiztheit, die alle im Kloster zu spüren bekamen.
Kündigte das Lebendige Licht sich wieder an, das sie schon mehrmals zuvor in solch quälende Zustände versetzt hatte? Forderte es etwas von ihr, was sie noch nicht erkennen konnte oder vor dem sie sich drücken wollte, weil es ihr zu schwierig erschien? Abwechselnd betete Hildegard, oder sie rang in endlosen Zwiegesprächen mit Gott. Doch die gebieterische Stimme, die sie schon einmal unaufhaltsam zum Schreiben gedrängt hatte, blieb stumm.
Die frommen Schwestern vermieden nach Möglichkeit alles, was die Magistra noch mehr belasten könnte. Aber so vorsichtig sie sich auch verhielten, Hildegard schien nur noch tiefer in ihren inneren Welten zu versinken, wenn sie nicht gerade wieder einen ihrer Ausbrüche hatte, die vor nichts und niemandem haltmachten.
Besonders im Scriptorium bekamen sie diese Stimmungsschwankungen zu spüren, allen voran Schwester Hedwig, die an manchen Tagen nur stumm die feinen blonden Brauen hob und sich rasch abwandte, um bloß nichts Falsches zu sagen. Auf Dauer fiel es ihr freilich immer schwerer, ihr Temperament zu zügeln, und wäre da nicht Bruder Volmar gewesen, dem es in seiner besonnenen Art immer wieder gelang, rasch aufflackernde Funken niederzuschlagen, hätte es durchaus zu Gezänk kommen können.
Die Arbeit wollte und wollte kein Ende nehmen. Zwar war Hildegards Schrift »Physica« inzwischen abgeschlossen, doch schon mehrten sich die Anfragen anderer Klöster
aus nah und fern, die dringend um eine Abschrift baten. Die Magistra hatte das Werk in neun kleinere Bücher unterteilt, die von den Steinen und Metallen bis zur Beschreibung der Fische, Vögel, Reptilien und Säugetiere reichten. Natürlich nahm die Botanik einen besonders großen Raum ein. Gestützt auf die Experimente und jahrzehntelangen Erfahrungen von Schwester Benigna, hatte Hildegard sich nicht auf die Bestimmung und Beschreibung von Pflanzen bis hin zu Bäumen beschränkt, sondern auch deren Eignung zur Heilung in zahlreichen beigefügten Rezepturen und Empfehlungen festgehalten. Ein reiches Kompendium war somit entstanden, das einerseits auf bereits bekannten Erkenntnissen der Medizin beruhte, andererseits aber viele neue, eigenständige Beobachtungen und Gedanken enthielt.
Selbst der Kaiserhof schien an »Physica« interessiert. Rainald von Dassel, seit Jahresbeginn zum Reichskanzler berufen, reihte sich mit einem höflichen Schreiben in die Schar der Bittsteller ein, die eine Abschrift wollten. Falls die Magistra sich dadurch geschmeichelt fühlte, so zeigte sie es nicht. Trotz der Zustände, die sie plagten, verfolgte sie, ebenso unerbittlich gegen sich selbst wie gegen ihre Begleiter, die Fertigstellung auch des zweiten Teils, dem sie den Titel »Causae et Curae« gegeben hatte.
Hierbei war die Naturkunde lediglich Basis ihrer Überlegungen. Im Zentrum stand der Schöpfer, der den Menschen erschaffen hatte, jenes unvollkommene Wesen, das stets nach Höherem strebt, gleichzeitig aber durch seine Sündhaftigkeit zerrissen wird - und dabei trotzdem niemals aus der unendlichen Gnade Gottes fällt.
Wie sehr hatte sie sich dabei verausgabt! Vor allem die ungewöhnlich offen formulierten Passagen über die Bildung des Menschen und sein geschlechtliches Verhalten
hatte sie unzählige Male verworfen und von Neuem überarbeitet. Doch bis zum heutigen Tag fanden noch immer nicht alle Stellen Gnade vor ihren kritischen Augen, und selbst der unermüdliche Zuspruch von Hedwig und Volmar vermochte sie dabei nicht wirklich sicherer zu machen.
»Es dürfen sich keine Fehler einschleichen!«, begehrte Hildegard auf, als der Mönch sie dezent darauf hinwies, dass der hintere Teil der Schrift, in dem sie sich über Krankheiten der Seele und des
Weitere Kostenlose Bücher