Die Prophetin von Luxor
Es gab kein Leben ohne einen festen Zweck und ohne eine unsichtbare Hand, die es leitete. Etwas anderes würden die Menschen hier nicht glauben. Das ist der Unterschied zwischen der griechischen und der orientalischen Gedankenwelt, dachte der Gelehrte in Cheftu. Das ist der Schlüssel.
Iri verbeugte sich vor Hat und zog sich auf seinen Sessel zu-rück.
»Magus!« rief ihn jemand aus der Menge. »Wenn all diese Dinge tatsächlich so geschehen sind, wie du gesagt hast, welcher Gott hat dann befohlen, daß sie stattfinden sollen? Ihrer oder unserer?« Zwanzig Stimmen fielen in die Frage mit ein, auf der Suche nach einer begreifbaren Antwort auf ihre Verwirrung.
Iri hob beide Hände. »Es war nicht die Hand eines Gottes, es war ein Spiel der Natur«, doch seine Worte gingen in den ungläubigen Protesten der Ägypter unter.
Auf Hats Befehl hin schlug einer der Soldaten laut mit dem Schwert gegen seinen Schild. Der Lärm hallte durch den Raum und ließ die Menschen verstummen. Glitzernd und zornig, den Blick fest auf Moshe gerichtet, saß Hat auf ihrem Thron. Ohne die Augen auch nur einmal von ihm zu nehmen, rief sie nach ihren Priesterinnen. Sie hatten sich zusammengedrängt, die grau bestäubten Roben im strahlenden Glanz des ersten Lichtes verborgen.
Sie traten vor, und Cheftu beobachtete entsetzt, wie Pharao gleichzeitig mit ihm Chloe erkannte. Hat schickte einen fragenden Blick in Thutmosis’ Richtung, und Cheftu fiel wieder ein, daß sie glaubte, Thut hätte Chloe zur Frau genommen. Groß und stolz stand Chloe vor der Gruppe, trotz der Asche in ihrem schwarzen Haar und der Flecken und Falten in ihrem Gewand.
»Was sagt die Göttin, Herrin RaEmhetepet?« fragte Hat.
»Da du immer noch vor mir stehst, nehme ich an, daß die Dunkelheit gebrochen wurde, bevor dieser -«, sie wies mit ihrer Geißel auf Moshe, »dieser Sklave Re mit einem Zaubertrick wieder enthüllt hat.« Sie wandte sich an Thutmosis. »Was sagst du, Neffe; hat uns deine Braut Hilfe gebracht?«
Ruhig erwiderte Thut Hats Blick. »Als ich heute morgen den Tempel verließ, habe ich das Leben der Priesterin genommen, so wie es mir befohlen ist. Diese Herrin war nicht jene Prieste-rin, und sie ist auch nicht meine Braut.«
Hat wirbelte zu Chloe herum. »Herrin ...« Aus ihrer Stimme sprach Todesverachtung. »Hast du eine andere an deiner Stelle gesandt? Das Recht und die Pflicht obliegen dir! Du hast jemand anderen geopfert? Wer ist gestorben?«
Cheftu spürte, wie ihm kalter Schweiß über den Rücken rann. Chloe war im Tempel gewesen. In den schlimmsten Notzeiten mußte die Hohepriesterin vor der Göttin tanzen und sie anflehen und dann entweder vor Pharao oder Horus-im-Nest treten, die menschlichen Verkörperungen Res. Sie sollte das Wohlgefallen der beiden gewinnen, um auf diese Weise das Wohlgefallen Res zu gewinnen. Wenn der Bann nicht gebrochen wurde, war es die Pflicht des Herrschers, die Priesterin zu opfern, um Ägypten zu retten. Statt dessen hatte Thut die Nacht mit einer anderen verbracht und den heiligen Dolch in deren Brust gesenkt, während ihr Leib noch warm von ihrer Vereinigung war.
Chloe trug die Verantwortung für die tote Priesterin! Er schloß seine Augen zu einem kurzen, von Herzen kommenden Gebet. Still wie eine Statue stand Chloe da. Cheftu hatte grauenhafte Angst, daß sie keine Erinnerung daran hatte, was von ihr erwartet wurde. Sie hatte ihm erzählt, sie hätte keine emotionalen Erinnerungen. Und genau dort müßte sich diese Information befinden.
»ReShera. Ich habe ReShera geschickt«, antwortete Chloe ohne jedes Gefühl.
Hats stählerner Blick heftete sich angewidert und enttäuscht auf Chloe. »Du hast also dein Gelübde gebrochen, eine heilige Schwester verraten und meinen Erlaß mißachtet, den Prinzen zu heiraten!« Schweigend stand Chloe vor ihr. Hat atmete tief ein und ließ steif verlauten: »Also gut, Priesterin. Um deiner Familie, des Grafen Makab und der Stellung willen, die du in meinem Herzen und an meinem Hof eingenommen hast, wirst du Thut heiraten eine neue RaEmhetep-Priesterin empfangen und sie gebären, um dann der Schwesternschaft überstellt zu werden, damit sie dich hinrichte, so wie es einer entehrten Priesterin geziemt. Enthebt sie ihre Amtes, und bringt sie mir aus den Augen!«
Cheftu wollte vortreten, doch Thutmosis hatte Hats Aufmerksamkeit bereits auf sich gezogen. »Nein, Pharao. Sie ist vermählt. Ich kann nicht eines anderen Mannes Weib ehelichen.«
Mit haßtriefender Stimme fragte
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