Die Prophetin von Luxor
deren Aufgabe es war, die Ordnung in ihrem Stamm und die Verbindung zu den anderen Stämmen aufrechtzuerhalten.
Auf ihrem Weg in die Wüste würden noch mehr Gruppen von Israeliten zu ihnen stoßen: Familien aus den Häusern der Adligen entlang dem Fluß; andere Familien, die auf abgeschiedenen Gehöften lebten; jene, die verstreut in den Dörfern zwischen Zarub und Aiyat wohnten.
Es war unheimlich, so in der kühlen Morgendämmerung abzuziehen. Ägypter säumten die Straßen, blau gekleidet, mit offenem Haar, die Gesichter mit Asche beschmiert. Ein geschlagenes Volk bot sein Gold und seine Juwelen den Fremden dar, die durch das eigene Land zogen: Fremden mit einem mächtigen, rachsüchtigen Gott; Fremden, die noch nach vierhundert Jahren ihre eigene Sprache sprachen, ihre eigenen Verwandten heirateten und die einschultrigen Gewänder aus der Zeit vor zwei Dutzend Monarchien trugen.
Aus allen Straßen war Trauergeheul zu hören.
In regelmäßigen Abständen sah man Familien, die rasende Mütter zurückhielten, während sie mit ansehen mußten, wie jene, die einst ihre Freunde und Nachbarn gewesen waren, davonzogen, den Tod in ihrem Gefolge.
Die Israeliten durchschritten die Stadttore, und die Sonne schien mit all ihrer Pracht auf sie. Moshe ließ kurz haltmachen, und die Menschen sammelten sich um ihn. Chloe empfand ein unwiderstehliches Gefühl von Bestimmung. Cheftu sah zu ihr, während sie ein Stück Papyrus herauszog und eilig die Gesichter skizzierte, die sie als Künstlerin bis dahin nie zu fassen bekommen hatte. Die Striche flossen in einer Linie und vollkommen ungezwungen von ihrem Auge in die Hand.
Sie zeichnete den auf seinem Stab lehnenden Großvater, das Kind mit den Gänsen und ihren Geliebten, die markanten Züge seines Gesichts und das Feuer in seinen Augen, mit dem er sie über die Schulter hinweg ansah. Zitternd betrachtete sie das Bild ... das Camille einst finden würde.
Was hatte das zu bedeuten?
Moshe blies ins Horn, und sie zogen weiter, eine Lumpenbande von Siegern, die abgesehen von ihren Gebeten nie zu einer Waffe gegriffen hatten. Chloe und Cheftu verschmolzen mit der langsam dahinschreitenden Menge: Alten, Kindern, jungen Müttern und ihren Hirtenmännern. Chloe schulterte den Korb mit ihren wenigen Kleidern, ihrer Palette, einer Schale ungesäuertem Brot und anderen notwendigen Dingen sowie dem Gold, das man ihnen vor ihrer Abreise gegeben hatte. Inzwischen war die Zollstation weit hinter ihnen, und Chloe mußte entgeistert lächeln, als ihr aufging, daß sie an dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten teilnahm.
Der Urquell der israelitischen Nation - der von den Ägyptern nirgendwo erwähnt wurde, da er ja nur ein einziges Mal stattgefunden hatte. Ein einziges Mal waren sie von herbeibefohlenen Plagen besiegt worden. Ein einziges Mal hatten sie unter einem blutigen Mondgewebe ihre Erstgeborenen verloren. Ein einziges Mal hatten ihre Sklaven Ägypten in Trümmern zurückgelassen. Nur ein einziges Mal.
Chloe drehte sich um, das Blickfeld eingegrenzt durch die Staubwolken, die diese sechstausend Familienverbände aufwirbelten. Das Rufen und Brüllen tausender Tiere und Kinder mischte sich mit dem Geplapper der Frauen und den aufgeregten Unterhaltungen der Männer zu ohrenbetäubendem Krach.
Moshe ließ sie nicht zur Ruhe kommen, denn er wußte um die psychologische Wichtigkeit, die riesigen Pylone, auf denen Hatschepsuts Triumphe aufgeschrieben waren, hinter sich zu lassen. Zum ersten Mal seit über vierhundert Jahren waren sie frei! Die Begeisterung um sie herum belebte alles, trotz der Erschöpfung nach dieser ersten Etappe von vielen Henti.
Gegen Mittag des nächsten Tages stand die Sonne hoch und heiß am Himmel, ließ die Stämme langsamer werden und vor Erschöpfung verstummen. In der Abenddämmerung drängten die Israeliten dann wieder voran, alle angestrengt lauschend, ob sie nicht die Räder von Pharaos Streitwagen hinter sich hörten.
Am folgenden Mittag legte Moshe Halt ein, und die Tausende sanken erleichtert auf den glühendheißen Sand, aßen ungesäuertes Brot und fielen sofort in einen besinnungslosen Schlaf.
Chloe war so erschöpft, daß sie kaum denken konnte. Cheftu hatte aus ihren Körben und Umhängen einen Sandschutz gebaut, hinter dem sie augenblicklich einschliefen, um erfrischt in der kalten Nachtluft zu erwachen.
Nachdem sie ihre Umhänge gegen die Kälte umgelegt hatten, aßen sie Datteln und Trauben, die Meneptahs Familie ihnen abgegeben hatte, um
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