Die Prophetin von Luxor
dem Brunnen in der Mitte des Lotosgartens standen, sah Cheftu sie an. »Du bringst uns alle in Lebensgefahr, RaEm! Schon zu dieser Stunde wissen die Priester von hier bis Waset von deinem schändlichen Verhalten! Das wird dem Großen Haus gar nicht gefallen. Jetzt kann dein ungeborenes Kind entweder zu einer Inkarnation Amuns oder zum Sohn von Horus-im-Nest erklärt werden! Daß du wieder sprechen kannst, kaum daß du Thut >gesehen< hast, wird dem Großen Haus wie Verrat erscheinen. Wir leben in unsicheren Zeiten. Du bist in Gefahr. Bete, daß Thut großzügig zu dir ist!«
Chloe zog ihren Arm aus seinem Griff. Jetzt erkannte sie, was der Schmerz bei ihrer Ankunft hier bedeutet hatte. Ihr Hals und ihre Brust hatten sich angefühlt, als hätten sich Myriaden von Feuerameisen darin breitgemacht - es war derselbe brennende Schmerz gewesen wie damals, als sie kurz nach ihrer Ankunft im alten Ägypten in anderen Körperteilen das Gefühl wiedergewonnen hatte. Sie konnte also schon seit mehreren Tagen wieder sprechen, hatte es aber nie ausprobiert. Haii-aii! Doch unterschied sich ihr Zorn auf sich selbst ganz eindeutig von dem Zorn auf diesen überheblichen Kerl, der nie zufrieden mit ihr war, ganz egal was sie tat.
Sarkastisch gab sie zurück: »Ich bitte dich vielmals um Vergebung, daß meine Stimme in einem so unglücklichen Moment zurückgekehrt ist. Ich habe nichts Falsches getan. Jetzt kann ich in Sicherheit zum Großen Haus zurückkehren, dort meine Taten erklären und mich von neuem meinen Aufgaben widmen. Was geht dich die Sache überhaupt an? Für dich bin ich doch nur eine weitere Kerbe in deinem Thot-köpfigen Stab! Deine Position ist nicht in Gefahr. Ich bin geheilt, und ich bin in Sicherheit!«
Cheftus Gesicht lag im Mondschatten, doch sein bestimmender Griff um ihre Taille und die langfingrige Hand, die gegen ihren festen Bauch drückte, sprachen eine deutliche Sprache. »In Sicherheit, Herrin? Wo in diesem Augenblick der Beweis für deinen Meineid in dir wächst? Wo dein Verlobter Nesbek, dein früherer Geliebter Pakab oder der Soldat Phaemon als Väter in Frage kommen, von denen dich jeder sofort verraten könnte? Oder war es ein anderer deiner verkommenen Edelmänner?« Er rüttelte sie sanft.
»Bist du von Sinnen?«
Chloes Gedanken überschlugen sich.
Für einen Sekundenbruchteil blitzte vor ihren Augen das Gesicht eines Mannes auf; sein Mund stand offen, und seine Augen waren ungläubig aufgerissen. Bevor das Bild verblaßte, sah sie Blut aus seinem Mund sprudeln. Zwei Hände, Frauenhände, waren mit seinem Blut überzogen. Sie verfluchte RaEm in ihre ganz persönliche Hölle, weil sie ihre Erinnerungen nicht besser
sortiert hatte. Wer war das? Wieso war er ihr erschienen?
Cheftu hatte beängstigend gute Argumente, was den Vater ihres Kindes anging. Sie legte ihre Hände auf seine.
»Falls ich ein Kind bekomme, soll es nicht für meine Sünden leiden müssen.«
»Dann erklärst du es am besten zum Abkömmling Amun-Res, Priesterin. Behaupte, es sei ein Götterkind, das Prinzessin Neferurra heiraten und ihr helfen soll, über Ägypten zu herrschen. Pharao wird dich zwar hassen, doch dafür hast du den Schutz Hapusenebs. Oder du wirst es los. Am Ufer des Nils wachsen Kräuter -«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Nein. Es ist ein Leben. Ich werde eine Möglichkeit finden, es zu beschützen.« Selbst wenn es nicht mein Kind ist, dachte sie benommen. Falls es überhaupt eines ist.
»Doch bis dahin brauchst du Schutz vor -« Cheftus Griff wurde weicher, dafür aber vertraulicher.
»Vor Thut«, unterbrach sie ihn. »Er hätte mich heute abend bestimmt nicht gehen lassen, hätte ich ihn nicht derart erschreckt.«
»Vielleicht vor Thut, aber auch vor mir«, murmelte er und drückte seine Lippen auf ihre. Sein Kuß unterschied sich von Thuts bestialischem Grunzen wie die Sonne vom Schlamm. In Chloes Kopf begann sich alles zu drehen, während sie sich an ihn schmiegte, die feste Wärme seines Leibes spürte und die Arme um seinen Hals schlang, um ihn noch fester an sich zu drücken und seinen berauschenden Duft einzuatmen. Sie öffnete den Mund und spürte einen elektrisierenden Fluß, sobald sich ihre Lippen trafen. Als er sich von ihr löste, ging sein Atem schwer, und seine Augen glänzten in der Dunkelheit wie die eines wilden Tieres.
»Was ist das für ein Zauber, RaEm?« Er hob eine bebende Hand, mit der er über ihre Wange und dann so zart über ihre Lippen fuhr, daß sie die Berührung kaum
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