Die Prophetin von Luxor
ein. Sie war eine der Priesterinnen, die während der Nacht beteten und mit ihren Lobgesängen und Huldigungen den geschwächten Re durch seinen dunklen Gang geleiteten, indem sie die Göttin der Liebe anflehten, ihm zu helfen. Eine Schutzpriesterin.
Von dem Zeitpunkt an, an dem der Mond voll war, bis zu dem Punkt, an dem er nur noch ein dünnes Horn war, würde sie die Nächte von elf Uhr bis Mitternacht damit zubringen, vor der silbernen Statue der Göttin zu tanzen und zu singen.
In einigen der anderen Nächte würden alle Priesterinnen zusammengerufen, um Prophezeiungen abzugeben; dann würden sie die »Milch der Göttin« trinken und in die Zukunft schauen. Heute war so eine Nacht, und ohne RaEm konnten die anderen die Zeremonie nicht durchführen. Dies war aufgrund ihres Ge-burtsdatums und ihrer Ahnen RaEmhetepets Bestimmung.
In Sekundenschnelle erfüllte diese Erkenntnis ihren Geist; plötzlich kannte sie jede der Frauen im Zimmer, die sie größtenteils selbst ausgebildet hatte. ReShera, fünf Uhr nachmittags; Ruha-et, sechs Uhr; Herit-tshatsha-ah, sieben Uhr; Ank-hem-Nesrt, acht, RaAfu, neun; Gerchet, zehn; und Chloe als RaEmhetepet war elf. Die kleine ReShera war die zweitmächtigste Priesterin und ebenfalls Mitglied der geheiligten Schwesternschaft, die alle Tempel überwachte. Außerdem war sie die Zwillingsschwester des vermißten Phaemon, auch wenn Chloe sich an ihn nicht erinnern konnte.
Chloes Blick kam auf dem blauen Band zu liegen, das ReShera um ihre Taille trug. Ein Trauerband. »Mein Beileid zu deinem Verlust«, sagte sie und deutete dabei auf den Gürtel. Einen winzigen Moment flammte leidenschaftliches Gefühl in ReSheras Augen auf, und die anderen Priesterinnen hielten allesamt den Atem an. Basha ließ einen Trinkbecher auf den Steinboden fallen.
ReShera senkte den Blick. »Ich bin überzeugt, daß die Götter sich meiner und Phaemons annehmen werden«, murmelte sie. Ihr Blick traf auf Chloes. »Wegen heute abend ...«
»Ich kann es kaum erwarten, mit der Göttin zu sprechen«, sagte Chloe. »Allerdings ist mir ihr Tempel hier nicht vertraut.«
Die Priesterin lächelte und sagte: »Es ist ein geheimer Tempel. Ich werde dir eine Sänfte schicken, ehe Re den Horizont überschreitet, Schwester. Die heutige Nacht ist von großer Wichtigkeit. Der Wüstengott der Apiru stört die Ma’at, und wir müssen herausfinden, was die Mutter von uns erwartet. Vielleicht gibt es eine Unreine unter den Priesterinnen, und dies ist unsere Strafe dafür. Wir müssen darauf vorbereitet sein.« Sie erhob sich, und die anderen jungen Frauen mit ihr. »Bis zum Atmu«, sagte sie und ging. Während Basha sich wieder zu Boden warf.
Cheftu speiste mit ihr zu Mittag, in sich verschlossen, aber kurzweilig. Sie spielten ein paar Runden Senet, von denen Chloe tatsächlich eine gewann. Als sie die Steine zusammenräumten, fragte Chloe: »Wenn du kein Heiler wärst, was wärst du dann am liebsten?« Sein Gesicht verzog sich überrascht, ehe er wieder seine höfische Miene aufsetzte.
»Wieso fragst du?«
»Tut das was zur Sache?« Sie zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich weil ich Thutmosis und seine Liebe zur Töpferei gesehen habe. Man sollte nicht meinen, daß Pharaonen sich mit derartigen Kleinigkeiten abgeben.«
Cheftu schaute sie an, und für einen kurzen Moment sah sie sein wahres Gesicht. »Ich wäre gern Schreiber.«
»Auf dem Marktplatz, wo du Briefe für die einfachen Leute schreibst?«
»Nein.« Er wandte den Blick ab, und ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich wäre gern ein Schreiber der Zeiten. Der die Regierungszeiten, die Traditionen, die Kriege Ägyptens erfaßt.« Sein Ton wurde sardonisch. »Und du, RaEm? Wärst du gern die Frau von fünfzehn Männern?«
Chloe erstarrte. Dieser Kretin! Sie versuchte, Frieden zu stiften, und was tat er?
»Herrin, ich muß mich entschul -«
Sie schnitt ihm das Wort ab.
»Einen guten Tag, Cheftu. Ich muß mich auf die Pflichten vorbereiten, die mein Amt mir heute abend auferlegt.«
Mit steifen Schultern stakste sie davon ... ihr blieben nur noch zwei Stunden.
Als die Sänfte eintraf, war sie bereits angekleidet. Nach zwei heißen und einem eiskalten Bad hatte Basha die Klinge geschärft, mit der sie Chloes Kopf rasieren wollte. Auf gar keinen Fall. Ob sie nun in RaEms Körper steckte und RaEms Gene austrug oder nicht, Chloe würde auf gar keinen Fall das Risiko eingehen, sich noch einmal die Haare abschneiden zu lassen.
Es war eben erst
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