Die Prophetin von Luxor
sich auf den Stuhl davor. Nacheinander nahmen die Priesterinnen Platz, wobei ReShera neben ihr zu sitzen kam. In einer flüssigen Bewegung setzten alle gleichzeitig die Kapuzen ab und ließen die Umhänge fallen.
Die sechs Hathors blickten sie an, und Chloe mußte zugeben, daß es die bestaussehenden Frauen waren, die ihr in Ägypten begegnet waren, Hatschepsut eingeschlossen. Keine einzige war geschminkt, wodurch die fein gemeißelten Züge noch deutlicher hervortraten. Manche waren groß und gertenschlank, andere, wie ReShera, klein und zierlich. Alle trugen die silbernen Tücher und Reifen. Nur ihrer hatte Hörner und Scheibe und die Feder der Wahrheit. Sie waren wie eine antike Schwesternschaft, dachte Chloe amüsiert.
Es schien ihre Aufgabe zu sein, den Anfang zu machen. Noch während sie ihren Blick um den Tisch wandern ließ, brachte ein Kind einen silbernen Dolch und legte ihn vor ihr ab. Chloe ackerte ihr Gehirn durch, auf der Suche nach einem Hinweis in RaEms Erinnerung, doch abgesehen von einigen Gesängen für ein Apis-Fruchtbarkeitsritual förderte sie nichts von Bedeutung zutage.
Mit großen Augen sah sie zu ReShera hinüber. »Schwester?«
bat sie.
Mit einem milden Lächeln legte ReShera die Hand auf ihr Handgelenk. »Die Mutter versteht dich, RaEm. Ich werde die Aufgabe übernehmen. Darf ich den heiligen Dolch haben?«
Erleichtert reichte Chloe ihn weiter und beobachtete, wie ReShera an einen fernen Alkoven trat. Sklaven führten eine weiße Kuh heraus, die dort versteckt gewesen war. Sie mußte ein Betäubungsmittel bekommen haben, dachte Chloe, denn sie blieb einfach stehen und blickte mit fast menschlichen Augen auf den Dolch.
Chloe sah sich um. Die Priesterinnen weinten. Lautlose Tränen rannen über ihre makellosen Gesichter, während sie zusahen, wie ReShera im flackernden Fackelschein, der sich in den silbernen Fäden in ihrem Schal und Kopftuch brach, auf die Kuh zuging.
Vor der Kuh blieb sie stehen und hob langsam den Dolch. Mit zurückgeworfenem Kopf begann sie zu beten, in hohem, heulendem Singsang, der durch den leeren Tempel hallte und die Geister zum Lobpreisen freisetzte.
»O Mutter Hathor, Göttliche Schwester Amun-Res, die Du alle Schönheit liebst, Beschützerin des Heiligen Auges, bitte erscheine uns. In inständigem Flehen um Dein Wohlgefallen suchen wir das Fleisch dieses Tieres. Nähre durch sein Blut und seine Milch die Deinen. Führe die Deinen, damit auch in Zukunft die Ma ’at, das heilige Gleichgewicht des Universums, erhalten bleibt. Gib den Deinen die Kraft von Löwinnen, damit sie erkennen, was den Heiligen Orden der Priesterschaft schwächt. Mutter, gewähre uns Deine Macht, Deine Unerbittlichkeit, Deinen alles sehenden Blick.«
Sie stieß das Messer in die Kuh, deren verängstigtes Muhen sich mit dem Heulen ReSheras und dem der Priesterinnen mischte. Blut sprudelte aus der Wunde in der Flanke der Kuh, und sofort kamen Sklavinnen angelaufen, um den roten Strom in Kannen aufzufangen. Sobald die Kannen gefüllt waren, nahm ReShera ihren Schal ab und stillte die Wunde. Die Kuh wurde weggeführt, und ReShera brachte die Kannen an den Tisch.
Chloe begann zu schwitzen; das hier nahm immer seltsamere Formen an. Eine Sklavin schenkte das dampfende Blut in ihre Kelche, und Chloe widerstand dem innigen Wunsch, ihren Kelch mit der Hand abzudecken; das wagte sie nicht. Gerchet klatschte in die Hände, woraufhin Sklavinnen vortraten und etwas an die Tische brachten, das wie ein Eintopf aussah, aber wie gestockte Milch roch. Sie schöpften jeder Priesterin eine Portion auf den Teller; Chloe mußte würgen. Es war eine Art Fleischtopf, aber in Milch gekocht.
ReShera hob ihre Hände himmelwärts.
»O liebreizende Hathor. Segne die Deinen, die wir unser heiliges Mahl verzehren. Bereite die Deinen vor auf das Feld des Schilfes, bereite sie vor in der Milch, die Du uns gegeben hast, so wie dieses Kind in der Milch seiner Mutter auf die Ewigkeit vorbereitet wurde. Segne uns, Mutter Göttin.«
Die Priesterin ließ die Hände sinken und erhob ihren Kelch.
»Heute abend brauchen wir ganz besonders die Hilfe der Mutter. Wir müssen unsere täglichen Sorgen vergessen und allein für ihr Wissen leben.« Sie wandte sich mit ausgestreckter Hand an Chloe. »Die Phiole, meine Schwester.«
Chloe sah sie mit großen Augen an. Phiole? Sie schloß die Augen, und plötzlich fiel ihr ein winziges, ablösbares Teil ein, das über ihren Haarreif gestreift worden war. Langsam faßte sie nach
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