Die Prophetin
Sie springt aus dem Bett, schaltet den Computer ein, löscht die wichtigste Datei und klettert rechtzeitig aus dem Fenster, bevor die Äbtissin und Strickland das Zimmer betreten. »Schlaues Mädchen«, murmelte Miles und klickte auf die Datei. »Aber nicht schlau genug.« Ein neues Kästchen erschien auf dem Bildschirm: DATEINAME:?YMBOS:EXE
DATEI GRÖSSE: 94.800 Bytes
PFAD: D:\TMBX52
ERSTELLT AM: 21/12/1999 00.00
GELÖSCHT AM: 28/12/1999 06.48
ERSTER CLUSTER: 30.248
ZUSTAND: gut
GESCHÜTZT DURCH DOS
DER ERSTE BUCHSTABE DES DATEINAMENS WURDE ÜBER DOS
GELÖSCHT: BITTE GEBEN SIE DEN NEUEN ERSTEN BUCHSTABEN EIN:?YMBOS:EXE
Miles hatte keine Ahnung, was ›?ymbos‹ bedeutete. Deshalb gab er den Buchstaben ›B‹ ein und klickte auf
›OK.‹ Auf dem Bildschirm war jetzt zu lesen:
BYMBOS.EXE WIEDERHERGESTELLT:
Er hatte die gelöschte Datei.
Zwei Minuten später war sie geladen, und Miles hielt einen Ausdruck in der Hand.
Er konnte wenig damit anfangen. Offenbar handelte es sich um eine Arbeitsunterlage, die täglich bei der Übersetzungsarbeit aufgerufen worden war, um neue Informationen hinzuzufügen, Notizen zu ordnen und griechische Buchstaben in einer unendlichen Vielzahl von Folgen aneinanderzureihen. Es sah aus, als habe die Archäologin versucht, ein Puzzle zu lösen. Nichts von all dem ergab einen Sinn.
Er studierte die nächsten Seiten. Wie es schien, hatte sie versucht herauszufinden, was ›Tymbos‹ war. Es gab Anmerkungen: ›Nicht gefunden über Lycos, Infoseek, UniCom, WebCrawler, Dianuba…‹
Schließlich erreichte er das Ende: ›Tymbos, ein mystisches Land, das angeblich an der Handelsstraße nach Saba liegt. Anstatt König Tymbos sollte es heißen König von Tymbos.‹ Miles starrte auf die letzten Worte: König von Tymbos. Das Jesus-Fragment endete mit den Worten: ›… bringe es zu König…‹
Das war also der König!
Er las die letzte Notiz: ›Saba war der alte Name Äthiopiens. Liegt Tymbos in Afrika?‹
Miles griff schnell nach dem Telefon, um Teddy anzurufen. Es würde nicht schwer sein herauszufinden, ob in den letzten Tagen irgendwelche Amerikaner in Addis Abeba angekommen waren.
Ein Volltreffer, dachte Miles hocherfreut. Das ist beinahe zu schön, um wahr zu sein!
Seine Hand schwebte über dem Telefon.
»Beinahe zu schön, um wahr zu sein…«
Er wandte sich stirnrunzelnd noch einmal dem Computer zu und legte im Textverarbeitungsprogramm eine neue Datei mit dem Namen Havers an. Dann speicherte er sie auf der Festplatte im Unterverzeichnis TMBX52 ab. Im Desktop klickte er auf ›Datei-Manager‹,betrachtete die Liste der Unterverzeichnisse, fand TMBX52, öffnete es unter havers.exe, klickte zuerst auf ›Datei‹ und dann auf ›Löschen‹.
Ein neues Menü erschien mit den Optionen:
NORMAL DELETE WIPE DELETE DOD WIPE DELETE
Havers kannte diese Funktionen: Normal Delete bedeutete Löschen im DOS. Dabei wurde die Datei ge-löscht, die Daten blieben jedoch auf der Festplatte erhalten, so daß man die Datei später wiederherstellen konnte. Bei Wipe Delete wurden die Daten mit Nullen überschrieben, und die Datei ließ sich nicht mehr herstellen. Und DOD – Department of Defence – überschrieb die gelöschte Datei gleich dreifach, so daß es absolut unmöglich wurde, die Daten noch einmal herzustellen. Stevensons Software hatte die DOD-Funktion, doch aus irgendeinem Grund hatte Catherine Alexander sich für Normal Delete entschieden.
Weshalb?
Havers überlegte angestrengt. Er blickte noch einmal auf das Datum und die Zeit der gelöschten Tymbos-Datei – 6.48 Uhr. Plötzlich wurde ihm klar, daß das überhaupt nichts zu bedeuten hatte. Alexander hatte möglicherweise die Uhrzeit des Computers geändert, die Datei gelöscht und die Zeit wieder zurückgestellt.
Also konnte sie die Datei jederzeit gelöscht haben – vermutlich lange vor Ankunft des FBI.
Wenn sie also die Zeit geändert und die Datei normal gelöscht hatte, so daß die Daten nicht verlorengingen, wenn sie die Flucht in letzter Minute vorgetäuscht und den Computer ›zufällig‹ zurückgelassen hatte, ließ das nur eine Deutung zu: Sie wollte, daß er die Datei fand! Er sollte glauben, daß ›Tymbos‹, wenn es überhaupt ein ›Tymbos‹ gab, in Afrika läge. Er wurde wütend auf sich. Wie konnte er auf einen so durchsichti-gen Trick hereinfallen? Er nahm sich die Dateien noch einmal vor. Er suchte das Tagebuch, das Stevenson erwähnt hatte, und das den Namen seines Mörders enthielt. Es
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