Die Prophetin
war nicht zu finden. Miles war sicher, daß Catherine Alexander diese eine Datei über DOD gelöscht hatte. Natürlich erst, nachdem die Daten auf einer Diskette gesichert waren.
Sie hatte ihm also wieder ein Schnippchen geschlagen. Sie war immer noch im Besitz der Schriftrollen und des belastenden Tagebuchs, und er wußte nicht, wo er sie suchen sollte. Strickland hatte die Äbtissin und Vater Garibaldi befragt. Beide behaupteten, nicht zu wissen, wohin die Alexander verschwunden war. Es gab keinerlei Anhaltspunkte außer dem Laptop, und der war, wie Miles nun wußte, nutzlos.
Er ging mit großen Schritten in seinem Büro auf und ab und überlegte, was als nächstes zu unternehmen sei. Plötzlich gab der Bildschirm ein Signal, das ihn auf eine Nachricht aufmerksam machte, die über einen bestimmten Computer im Untergeschoß einging. Als er im Kommunikationszentrum ankam, war die Übertragung gerade beendet. Miles sah, daß es sich um die letzte Übersetzung von Papazian in Kairo handelte, der mit einer kurzen Notiz mehr Geld verlangte. Miles beachtete diesen Nachsatz nicht.
Die Übersetzung war nach dem einzigen Photo angefertigt worden, das Miles von der sechsten Schriftrolle besaß. Der Papyrus befand sich in einem schlechten Zustand, und die Aufnahme war unscharf. Deshalb hatte Papazian beim Übersetzen auch länger gebraucht. Catherine Alexander mußte es nach dem Aufnehmen so großer Textmengen eilig gehabt haben, zum Ende zu kommen, und war etwas nachlässig geworden.
Auf der Rückseite des Photos stand der Hinweis: ›Sechste Rolle, Seite 12 von insgesamt 13 Seiten.‹
Es war die vorletzte Seite von Sabinas Geschichte. Das bedeutete, die Zeit war beinahe abgelaufen. Wenn der Text von Papazian diesmal keine Hinweise enthielt, hatte Catherine Alexander den Wettlauf gewonnen.
Havers überflog das Blatt. An zwei Wörtern in der Mitte der Seite blieb sein Blick hängen. Er konnte sein Glück kaum fassen:
›Aquae Grani.‹
Was war das? Eine Stadt? Vielleicht war Catherine Alexander dorthin gefahren.
Er ging zurück an den Computer in seinem Büro, fuhr die in der Scimitar Software enthaltene Enzyklopä-
die ein, klickte auf ›Suche‹, tippte Aquae Grani und drückte >Enten.
»Wer sagt es denn…«, murmelte er einen Augenblick später lächelnd. Es gab sogar ein Bild.
Der siebzehnte Tag
Donnerstag, 30. Dezember 1999
Freida war die Matriarchin der Sippe. Eines Tages kam sie zu mir und sagte, ich sei noch jung und im gebärfähigen Alter. Um bei ihnen zu leben, müsse ich heiraten, denn ich brauche einen Beschützer.
Aber da ich keine Jungfrau sei, so sagte sie, werde mich kein Mann haben wollen.
Sie hatte ihren Sohn Sigmund gefragt, ob er mich nehmen würde, denn er war verwitwet und kinderlos. Er hatte mich bisher kaum zur Kenntnis genommen, denn seine Gedanken kreisten um die Vereinigung der Stämme und die Wiedereroberung des Landes, das die Römer seinem Volk entrissen hatten. Doch da seine Mutter es wünschte, stimmte er zu. Wie sollte ich darauf reagieren, liebe Amelia?
Einerseits hoffte ich immer noch, gerettet zu werden. Andererseits hatte Freida recht. Eine unverheiratete Frau im gebärfähigen Alter konnte Probleme unter den Männern schaffen. Mein Überleben hing davon ab, daß ich bei der Sippe blieb. Da ich festgestellt hatte, daß Sigmund kaum jemals im Dorf war, stimmte ich der Heirat zu.
Bei den Germanen bringt nicht die Braut die Mitgift in die Ehe, sondern der Ehemann. Nach alter Tradition erhält sie ein Pferd und Zaumzeug, einen Schild und ein Schwert. Diese Dinge symbolisie-ren, daß sich die Frau das Heldentum ihres Mannes zu eigen macht, und erinnern sie daran, daß sie die harte Arbeit und die Gefahren des Mannes teilt. Der Schild und das Schwert, so sagte Freida, gehen nach dem Tode der Frau in den Besitz ihrer Töchter und danach ihrer Enkeltöchter über. Aber ich hatte nicht die Absicht, Kinder zu bekommen, und wie es aussah, Sigmund auch nicht. An unserem Hochzeitstag gab es ein großes Festmahl, bei dem viel getrunken wurde. In der Hochzeitsnacht wartete ich jedoch vergebens in dem eigens für uns errichteten Holzhaus auf meinen Bräutigam. Fortan lebte ich wieder bei Freida und sah Sigmund nur selten. Der Stamm war vom Land seiner Vorfahren vertrieben worden und lebte in der Rolle des heimatlosen Bittstellers auf fremdem Boden.
Sigmund war der Anführer. Ich beobachtete ihn bei Ratsversammlungen. Er konnte die Krieger mit seinen Taten und Worten begeistern. Er
Weitere Kostenlose Bücher