Die Prophetin
überhaupt etwas befindet.«
»Da ist nichts, zumindest nichts für das menschliche Auge. Aber Kojote sagt, wenn man weiß, wie man sehen muß, dann kann man dort die unsichtbaren Wege der Götter und Ahnen sehen. Verstehst du, das ist etwas Ähnliches wie die Traumpfade der Aborigines in Australien.«
»›Die unsichtbaren Wege der Götter‹«, wiederholte Miles und lächelte. »Das klingt schön.« Er küßte sie noch einmal. »Ich komme bald nach.«
Nachdem Erika den Turm verlassen hatte, ging Miles zum Schreibtisch zurück, wo noch immer die Photos lagen, die Zeke aus Stevensons Wohnung mitgenommen hatte. Wie sollte er das Kaninchen finden, das sich in seinem Bau in Sicherheit gebracht hatte? Wie sollte er Catherine Alexander aus ihrem Versteck locken?
Miles betrachtete die Abzüge in aller Ruhe. Ihm fiel auf, daß nicht alle Textstellen gut lesbar waren. Es gab sogar Lücken, wo sich vermutlich der Papyrus aufgelöst hatte. Auf einer Aufnahme entdeckte er, daß ein ganzer Satz fehlte. Nervös trommelte er mit dem Finger auf den Granit.
Was hatte Stevenson gesagt, als er den P245-Papyrus im Britischen Museum fand?
Catherine Alexander brauche Kopien ähnlicher Schriftrollen, um ihre Übersetzung zu vereinfachen…
Wie hatte Stevenson das ausgedrückt: ›Überlaß das Suchen den elektronischen Fingern, dann mußt du dein sicheres Versteck nicht verlassen‹
Unvermittelt hörte er Erikas Worte wie ein Echo: ›Die unsichtbaren Wege der Götter…‹ Miles richtete sich auf. Das ist es!
Der Tiger duckte sich zum Sprung. Miles drückte auf seinem Handsprechgerät eine Nummer und weckte Teddy Yamaguchi. Catherine Alexander würde nicht wagen, auf richtigen Straßen zu fahren. Dort würde man sie früher oder später entdecken. Aber es gab andere Wege, denen sie auf der Suche nach Kopien folgen konnte.
Die unsichtbaren Wege‹ unserer Zeit sind die Datenautobahnen!
»Teddy, es gibt Arbeit«, sagte Miles, und alle Müdigkeit war schlagartig verschwunden. Der Gedanke, daß das Kaninchen durch sein Reich rannte, versetzte ihm einen Adrenalinstoß. Cyberspace!
Dort würde er sie zur Strecke bringen, denn im Internet war er, Miles Havers, der unangefochtene Herrscher.
Der fünfte Tag
Samstag, 18. Dezember 1999
Santa Ynes-Berge, Kalifornien
Catherine wachte auf und versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie war. Sie lauschte auf die vertrauten Lagergeräusche, wartete auf den Ruf des Muezzin vom hohen Minarett in der Ferne, aber sie hörte etwas, das sie zuerst nicht einordnen konnte. Dann wußte sie es. Regen… Regen im Sinai?
Sie stellte fest, daß sie nicht wie üblich ein übergroßes T-Shirt anstelle eines Schlafanzugs trug. Sie lag auch nicht in ihrem Feldbett. Sie spürte etwas Kaltes, Hartes an ihrem Hals. Sie tastete danach, hielt es vor die Augen und sah, daß es ein kleiner Jadeanhänger war – ein Jaguar an einem Lederriemen. Plötzlich fiel es ihr wieder ein: Die Killer hatten Danno ermordet… ihre Flucht durch den Regen mit Garibaldi. Catherine setzte sich auf. Sie erinnerte sich nicht daran, im Sessel eingeschlafen zu sein. Irgendwann mußte sie Garibaldi ins Bett getragen haben. Er hatte ihr die Sandalen ausgezogen und sie mit der Decke zugedeckt.
Sie blickte zum anderen Bett. Die Decke war nicht zurückgeschlagen, aber zerdrückt. Offenbar hatte er sich nicht zugedeckt. Auf dem Tisch vor dem Fenster stand Dannos geöffneter Laptop. Garibaldi hatte gesagt, er werde sich ins Internet einloggen.
Die Tür zum Bad war geschlossen. Licht drang durch den Türspalt. Sie hörte das Wasser der Dusche.
Langsam setzte sie sich auf, seufzte und umfaßte den Kopf mit beiden Händen… Danno! Sie stand auf und ging zu ihrem Gepäck.
Als erstes vergewisserte sie sich, daß die Schriftrollen noch da waren. Sie lagen unversehrt zwischen den Einbanddeckeln des paläobotanischen Handbuchs. Alles schien so, wie sie es in der Nacht zurückgelassen hatte. Sie blickte noch einmal zum Bad. Garibaldi hätte die sechs Bücher an sich nehmen und davonfahren können, während sie schlief. Aber das hatte er nicht getan. Kann ich ihm vertrauen?
Sie sah seine schwarze Reisetasche. Da die Dusche noch lief, öffnete sie die Tasche und warf einen Blick hinein. Sie sah eine Stola, eine kleine Flasche Öl, eine andere, die offenbar Weihwasser enthielt, ein Buch –
Die Stundengebete – und den neuen Roman von Tony Hillerman. »Ich bin wirklich ein Priester.«
Sie zuckte zusammen. Garibaldi stand in der
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